12/08/2024
Online-Release
Interview
Jörg Sasse im Gespräch
Lieber Jörg, an zwei Abenden hast Du hier im Projektraum des DFI e.V. über deine Arbeit „Speicher II“, aber auch über deine künstlerische Praxis im Allgemeinen gesprochen. Wie war das für Dich?
Am ersten Abend habe ich einen Vortrag über meine Arbeit gehalten, der erstmals chronologisch war. Das hatte ich vorher immer vermieden, denn ich versuche, jeden Vortrag neu und mit anderen Schwerpunkten zu halten, so dass es für mich spannend bleibt. Aber als ich den Projektraum sah, der ja direkt gegenüber der Kunstakademie liegt, war es naheliegend, die Herausforderung anzunehmen, die Sache einmal chronologisch anzugehen.
Was hat diese chronologische Herangehensweise für Dich bewirkt?
Jahrzehntelang war ich der Meinung, dass die Arbeit, die ich mache, einem großen Puzzlespiel ähnelt, bei dem sich die Dinge hier und da verdichten und erst im Lauf der Zeit klarer wird, was das eigentlich alles ist. Aber bis heute weiß ich nicht mal, wieviele Teile es sind! Doch dann saß ich im Workshop mit Studierenden der Kunstakademie, redete und sah dabei gelegentlich zum Fenster hinaus auf das Akademiegebäude. Ich musste daran denken, dass ich vor genau einundvierzig Jahren dort angefangen hatte, Kunst zu studieren.
Wie darf man sich den Studienanfänger Jörg Sasse vorstellen?
Ich kam mit einem großen Autoritätsproblem an die Akademie, wo etwas passierte, das ich mir so gar nicht hätte wünschen können, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass es existieren könnte.
Was war das?
Die Form von Freiheit. Diese Akademie als Kiste als ein großer Raum, in dem etwas Unerwartetes passieren kann. Und soll! Der Freiraum ist vielleicht im Lauf der Zeit weniger geworden, durch Studienordnungen und Vergleichbarkeitsfantasien von bürokratischer Seite.
Damals, ich erinnere mich genau, bekamen alle neuen Studierenden der Akademie ein hektografiertes Blatt, auf dem stand sinngemäß, man solle sich bitte darüber im Klaren sein, dass die Ausbildung an der Kunstakademie sehr wahrscheinlich nicht dazu führen würde, dass man damit seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Und dass man gut beraten wäre, wenn man sich ein kommerzielles zweites Standbein suchte. Wobei „kommerziell“ gar nicht der Begriff war der da verwendet wurde.
Gemeint war wohl ein bürgerlicher, ein sogenannter normaler Beruf.
Ein Gelderwerb, ja. Und als ich das damals gelesen habe dachte ich mir: hier bin ich genau richtig. Den Zettel habe ich später oft gesucht, aber nie wiedergefunden. Vielleicht liegt die Vorlage davon noch irgendwo im Archiv der Akademie.
Du bist im Jahr 1982 an die Kunstakademie Düsseldorf gekommen. Zehn Jahre zuvor war Joseph Beuys entlassen worden, weil er sich weigerte, Bewerber abzulehnen. Er wollte alle aufnehmen. War Beuys noch präsent als Du angefangen hast?
Er behielt einen Raum, durfte aber nicht weiter unterrichten. Es war lustig, weil der Raum der Beuysklasse dann hauptsächlich von der F.I.U. [Free International University] benutzt wurde. Dort hing eine Tafel an der Wand, auf der stand: „Nur noch 2190 Tage bis zum Ende des Kapitalismus“. Soweit ich mich erinnere, wurde die Zahl gelegentlich ausgewischt und neu eingetragen. Es waren die Nachwehen der 70er Jahre. Der Geist von Joseph Beuys schwebte also noch eine Weile durch die Hallen. Und gelegentlich war Beuys selbst auch vor Ort zu sehen.
Sein Konflikt mit der Akademie entzündete sich daran, dass Beuys sämtliche Bewerber für ein Kunststudium aufnehmen wollte. Das konnte er nicht durchsetzen.
Und die Versuche, es durchzusetzen, führten zu seiner Kündigung, die nach langem Rechtsstreit in einem Vergleich mit dem Land endete. An der Akademie muss man sich am Ende aber doch darauf geeinigt haben, dass es vielleicht nicht so schlecht wäre, mehr Bewerber aufzunehmen. Und dass diese Studienanfänger erst einmal ein Jahr lang alle zusammen fächerübergreifend in einen sogenannten Orientierungsbereich kommen sollten. Als ich herkam, gab es an der Nordseite des Akademiegebäudes einen Anbau aus Fertigbauteilen, in dem die jeweils ersten beiden Semester gemeinsam untergebracht waren. Ein intensives, teils sehr explosives Gemisch. Dennoch war die Zeit hier für viele Studierende eine der intensivsten der ganzen Akademiezeit, eine tolle Auseinandersetzung.
Wie sah der Unterricht im Orientierungsbereich aus?
Es gab weder Aufgaben noch Verpflichtungen, an irgendwelchen Lehrveranstaltungen teilzunehmen. Genau das war aber wahrscheinlich die Zeit während des Studium, in der die meisten Studierenden viel vor Ort präsent waren. In den ersten Semesterferien wurde dann auffällig, dass einige der Meinung waren, es seien ja jetzt Ferien, und da ist dann eben Pause mit der Kunst und mit dem Arbeiten. Das fand ich eher merkwürdig.
Du hast keine Pause gemacht?
Nein. Ich habe 1982 mit dem Studium angefangen. Die Zeit der APO, also der Außerparlamentarischen Opposition, war da lange schon vorbei. Außerhalb der Gesellschaft zu stehen war gestern. In diesem System und nicht außerhalb musste man einen Platz finden. Und ich wollte etwas machen, für das nur ich selbst die Verantwortung übernahm. Das war das Versprechen der Kunst. Ich hatte vorher Musik gemacht und war auch mit einer Band aufgetreten. Dabei war ich aber deutlich mehr auf die Launen und Stimmungen anderer angewiesen – und die anderen auf meine. Das war schwierig für mich.
Du bist dann in die Klasse von Bernd Becher gekommen, die erste entsprechende Fotoklasse überhaupt an einer Kunsthochschule, die berühmte Becherklasse. Wie kam es dazu?
In diesen ersten Wochen an der Akademie sagte ein Dozent zu mir: „Sie sind Fotograf, da müssen Sie mal den Bernd Becher kontaktieren“. Fotografiert hatte ich immer - ich kam schon mit den ersten Zehntausend überwiegend schwarzweißen Negativen nach Düsseldorf - , aber je länger ich an der Akademie war, desto weniger interessierte Fotografie mich. Dennoch machte ich weiter Fotos, hatte aber überhaupt nicht die Vorstellung, dass das irgendwas mit Kunst zu tun haben könnte. Dann musste ich mich trauen, Bernd Becher anzurufen und ihm sagen, dass mir ein Dozent geraten hat, dass ich ihn mal treffen soll.
Bernd Becher hat zusammen mit Hilla Becher neben seiner Lehrtätigkeit intensiv die eigene Kunstpraxis betrieben. Wie ging das zusammen mit einer intensiven Betreuung von Studierenden?
Bernd hat mir erzählt, dass er überredet worden war, diesen Job zu machen. Die Bechers hatten nicht viel Geld, waren aber überzeugt davon, dass sie ihre Arbeit weiterführen wollten. Bernd hatte, so sagte er mir, die Professur an der Akademie nur unter der Bedingung angenommen, dass er sich nicht in irgendwelche Gremien einmischen musste. Und das hat er auch nie getan.
Wie war Bernd Becher als Lehrer?
Für mich ziemlich klasse. Er hatte an der Kunstakademie Düsseldorf einen Sonderstatus, wenn man so will. Bernd suchte sich unter den Studierenden die fotografischen Positionen aus, mit denen er etwas anfangen konnte. Und diese Studierenden nahm er dann in seine Klasse auf. Ich hatte damals eine grundsätzliche Skepsis allen Menschen über dreißig gegenüber. Nicht aus politischen, APO-Gründen – ich hatte einfach echt schlechte Erfahrungen gemacht. Und dann war da auf einmal jemand, der mir zuhörte und mit dem ich reden konnte.
Was waren Eure Themen?
Wir haben viel über Malerei und über Politik gesprochen und gar nicht so viel über Fotografie. Obwohl ich ja erst nach einem Jahr sozusagen in seine Klasse hätte kommen können, hat er mir nach einem halben Jahr bereits angeboten, mit einer Großbildkamera zu arbeiten. Und so fing ich im zweiten Semester schon damit an, in der Klasse Becher zu arbeiten. Ich wollte damals aber eigentlich noch Bildhauerei machen.
Dein zweiter Lehrer an der Akademie war der Bildhauer Norbert Kricke.
Norbert Kricke war damals schon pensioniert, hatte aber noch eine Klasse, die sein Assistent weiterführte. Kricke hatte ich vorher schon kennengelernt, weil ich ihn mit Luise Kimme, der Professorin des Orientierungsbereiches, auf der Ratinger Straße getroffen hatte. Er kam uns entgegengeschlurft in seinem langen Mantel, und dann unterhielten die beiden sich und Luise sagte, „Norbert, komm doch mal mit in den O-Bereich und erzähl den jungen Leuten mal ein bisschen was“.
Was hatte Norbert Kricke zu sagen? Erinnerst Du dich an Einzelheiten?
Er hat einiges erzählt, doch das Einzige, was ich nie vergessen habe war seine Aussage, dass, wenn man sich in seiner Kunst spezialisiert und forscht, damit auch immer weiter kommt. Dies bedeute gleichzeitig aber auch, dass andere eben immer weniger mitkommen. Man werde einsamer, und deshalb müsse man echt aufpassen. Mittlerweile weiß ich, dass es stimmt. Man muss als Künstler aufpassen, sein Korrektiv nicht zu verlieren. Man muss Kontakte pflegen zu Menschen, die offen und kritisch sind. Und nach außen helfen, den Zugang zur Arbeit offen zu halten.
Wir sprechen hier vom Anfang der 1980er. Was war damals die Stimmung unter den Düsseldorfer Kunststudenten? Was war der Vibe?
Es war zu einer Zeit, als man Kunst zwar auf Lehramt studieren konnte (was Beuys lange propagiert hatte), doch inzwischen war es wegen einer vorhandener „Lehrerschwemme“ eher unwahrscheinlich geworden, nach dem Studium auch einen Job zu bekommen. Ich glaube, diesen Kontext zu kennen ist wichtig. Für viele war es nicht einfach, an Zukunft zu glauben: es war eine desperate Zeit. Im Alter zwischen 15 und 25 sieht man sich am Ende der Geschichte stehend. Ich habe mit zwanzig nicht geglaubt, dass ich das Jahr 1984 erleben würde, also 22 werden könnte. Es war eine gefühlt dramatische Situation. Was wird aus der Umwelt? Eskaliert der Ost-West-Konflikt? Aber ich war mit meinem Gefühl nicht alleine.
Umso wichtiger in einer solchen Situation sind dann die Lehrenden.
Die Akademie ist eine Schutzzone, in der auch damals schon eine Menge desperater junger Menschen zusammenfand. Für viele klappte es, den richtigen Betreuer oder die passende Betreuerin zu finden. Das Spektrum reichte von Konrad Klapheck, der jeden Tag mit dem Fahrrad in die Akademie kam und alle paar Stunden in seine Klassenräume links und rechts seines eigenen Ateliers hineinschaute, um zu sehen, was die Studierenden so machten. Er war einer, der dann auch mal gesagt hat: „Nee, das geht so nicht, das musst du anders machen, gib mir mal den Pinsel“. Nam June Paik dagegen tauchte ein- bis zweimal im Semester auf, sah sich alles an, meinte „Super, weiter so“ und lud dann alle zum Essen ein. Danach war er wieder weg.
Eine solche Haltung setzt voraus, dass man schon als Student sehr, sehr eigenständig ist.
Ja. Und das gehört zu dem, woran damals viele Kommilitoninnen und Kommilitonen gescheitert sind. Die hatten die Erwartung, ich gehe jetzt zur Akademie und dort wird mir beigebracht, wie man Kunst macht. So geht es aber halt gar nicht.
Nach meiner anfänglichen Faszination für die Akademie kam die Skepsis. Ich hatte gemerkt, dass nicht alle aus innerer Überzeugung hergekommen waren, sondern weil z.B. ihr Kunstlehrer ihnen gesagt hatte, dass sie gut zeichnen können oder weil manche Eltern es unheimlich toll fanden, wenn die Kinder Kunst studieren. Man kann jetzt darüber streiten, ob man Kunst überhaupt unterrichten kann…
Kann man?
Ich würde sagen ja. Man kann ziemlich viel aus dem Umfeld und von der eigenen Erfahrung vermitteln, und man kann neugierig machen. Man kann ermutigen, an der eigenen Basis zu arbeiten und helfen, sie zu finden. Also das, was vielleicht das Eigene sein könnte. Das da kann man unterstützend fördern. Aber man kann natürlich schwer jemandem beibringen, über einen ziemlich langen Zeitraum selbstmotiviert zu arbeiten –und sich selbst dabei auch zu ertragen. Mit der bildenden Kunst ist es ja nicht so, wie bei Musikern oder Schauspielern, die auf einer Bühne etwas vortragen für ein Publikum, das sich abwendet oder applaudiert oder euphorisch ist und damit sofort etwas zurückgibt. Resonanz ist in der bildenden Kunst eher schwer und indirekt zu bekommen. Und es stellt sich die Frage, ob das Einzelkämpfertum gesellschaftlich und kommerziell überhaupt notwendig ist. Die Genius-Nummer bedienen einige Künstler trotzdem weiter sehr gern, weil sie einfach auch gerne Popstar sein wollen. Dann ist es natürlich hilfreich. In Anführungszeichen.
Warum ist eigentlich Finden origineller als Erfinden? Das ist ein Zitat von Dir.
Von mir? Könnte sein. Ich überlege gerade, woher das kommt. Es könnte auch von Karl Valentin stammen. Die schrägsten Geschichten findet man, die erfindet man nicht. Ich habe das immer gerne übertragen. Ich habe also während des Studiums an der Akademie herausgefunden, dass ich mich dort in einem Schutzkasten befinde, den nach außen in die Welt zu verlassen schwierig ist. Wenn ich aber zwischen mich und die Welt zum Beispiel eine Kamera halte, dann macht das etwas. Es bringt mir ein Stück Sicherheit. Eine große Klappe zu haben ist ja ganz oft auch eine Abwehrreaktion. Aber die große Klappe ist nicht mehr so wichtig, wenn eine Kamera Schutz bietet.
Die Fotografie ermöglicht einem also Weltzugang. Aber kann man die Welt vor der Kamera überhaupt abbilden?
Kann man denn die Welt zeichnen?
Sicher nicht erschöpfend, aber in Teilen. Es ist nicht dasselbe.
Doch! Das habe ich so noch nie gesagt, aber vielleicht macht es die Sache klarer. Zeichnung bedeutet auch Transformation. Es ist ein technisches Vermögen, zeichnen zu können, also die Kenntnis im Umgang mit einem Medium zu haben. Bleibt die Frage wofür. Für einen Architekten würde es im Fall dieses Raumes hier reichen, eine Grundrisszeichnung zu haben und Höhenangaben. Heute würde man wohl ein 3D Modell machen, aber auch das wäre nur eine Konstruktion. Das ist mit der Kamera natürlich ebenso. Bei der Kamera kommt jedoch die Schwierigkeit dazu, dass auf einem Foto schon alles drauf ist was sich vor der Linse befunden hat. Das ist kein Vorteil, sondern meistens ein Nachteil.
Müsste es nicht eigentlich ein Vorteil sein?
Bei der Zeichnung fängt man mit dem leeren Blatt an. Man macht die ersten Striche und merkt vielleicht: „Mist, das war's nicht, ich fange lieber noch mal an“. Und jetzt meinen natürlich manche Leute, ein Foto würde die Realität zeigen, weil es in seinem Ausschnitt eine Ähnlichkeit zu dem zeigt, was man selbst gesehen hat. Das ist natürlich schon ganz lange Quatsch. Oder schon immer.
Das Foto sieht aus wie ein Stück Realität, ist es aber nicht?
Ja, aber sind denn romantische Malereien nicht auch Realität? Der Realismus in der Malerei, der schon ganz alt ist und oft auch mit dem täuschend echten Abbild daher kommt? Oder manche Stillleben aus dem 16. Jahrhundert? Da ist es so, dass der Mensch die ganze Sache gemacht hat. Bei der Kamera existiert eher die Vorstellung, dass es eigentlich das Können der Maschine war. Aber vielleicht gibt es auch jemanden, der ein Interesse daran hat zu behaupten, dass dieses oder jenes Foto die Realität darstellt. Im Düsseldorf der 80er Jahre war die Werbebranche sehr präsent, auch die Modeindustrie. Ich kannte ein paar Werbefotografen, die mich bei ihrer Arbeit haben zusehen lassen. Diese Art von Fotografie ist natürlich von vorne bis hinten Konstruktion. Eiskaltes Bier zu fotografieren ist eben ein Fake, eine Komplettkonstruktion. Aber noch ohne Rechner. Das musste alles irgendwie im Studio inszeniert werden, und darin waren einige in Düsseldorf Meister.
Wenn ich solche Werbefotos sehe, dann weiß ich erfahrener Konsument aber doch, dass das im echten Leben so nicht aussieht. Wenn ich die Fotografien von Laien vor mir habe, gehe ich mal davon aus, dass die diese Skills gar nicht haben.
Vielleicht solltest Du nicht davon ausgehen: in den letzten Jahren hat die verfügbare Technik auch in der Laienfotografie das Niveau des Outputs deutlich angehoben. Inzwischen korrigiert KI – und die steht damit noch am Anfang.
Das Problem ist der Begriff der Realität. Ich glaube, dass wir mit diesem Begriff möglicherweise gar nicht weiterkommen, weil er zu schwammig ist. Und das ist ganz eine schöne Vorlage, denn nun kommen wir wirklich zu Aspekten, die in meinen „Speichern“ wichtig sind.
Speicher ist eine Werkgruppe, die du 2008 erstmals ausgestellt hast. Mittlerweile existieren vier Fassungen, die allesamt physisch im Raum präsent sind. Das macht die digitale Bilderflut handhabbar oder vermittelt zumindest das Gefühl davon. Ist das die Absicht dahinter?
Heute spricht man gerne von Blasen, insbesondere auf Social Media. Warum gibt es darin heute so viele rechtsextremere Positionen? Von wem werden sie forciert? Wie werden diese Blasen aufgebaut? Inzwischen sind Algorithmen und KI in dieser Hinsicht total wichtig geworden – weil das, was Aufmerksamkeit erzeugt, über Werbung auch Geld generiert. In der Optimierung des Systems geht es nicht darum, Wahrheit von Fälschung zu unterscheiden, oder die Realität von der Nicht-Realität. Dem Algorithmus ist die Erzählung dahinter vollkommen egal!Aber der Kontext ist essenziell: liegt der Apfel auf dem Marktstand als letzter im Korb, dann denkst du vielleicht: „Es gibt nur noch einen Apfel, den kaufe ich mal“. Aber wenn du jetzt hier reinkommst und von der Decke genau auf deiner Augenhöhe würde eben dieser Apfel hängen und sonst nichts, dann würdest du ganz anders über diesen Apfel nachdenken.
Ich würde zum Beispiel nicht reinbeißen.
Ja, das ist gut: jedenfalls nicht jetzt, in der Mitte der 20er Jahre des 21. Jahrhundert, Das eröffnet das wichtige Thema des Zeitkontexts in der Rezeption. Also: Kontext ist Raum. Und Kontext ist Zeit. Im Jahr 1972 wärst du vielleicht hier reingekommen, hättest den Apfel genommen und hineingebissen, weil er vielleicht Teil einer Performance gewesen wäre, oder du es so verstanden hättest. Über deine Sozialisation in der Zeit wäre es dir vermutlich völlig plausibel erschienen.
Ich hätte vielleicht auch keinen großen Respekt vor Leuten gehabt, die Äpfel in Ausstellungsräume hängen.
Nein, du hättest dich vielleicht gefragt: „Was für eine Kiste ist das hier eigentlich, in der ein Apfel von der Decke hängt? Von wem wird die betrieben? Was ist meine Rolle in diesem Kontext?“ Entweder aus Respektlosigkeit oder aus Freude darüber, dass jemand so eine schräge Geschichte macht, wäre der Apfel von dir aufgegessen worden. Und dann ist er weg. Was ist Abwesenheit, was Verlust, oder was Leerstelle, die zu füllen ist. All das wäre damit zum mögliches Erfahrungsfeld geworden, ohne Text mit einer Handlungsanleitung an der Wand.
Zeit und Ort sind auch für unsere Rezeption von Fotografie die Hauptkriterien. Das ist ein Grund dafür, warum wir sie mit einer anderen Hirnhälfte wahrnehmen als Malerei.
Ist das so?
Detlev B. Linke hat mir das erzählt, ein Neurologe, der an der Universität Bonn lehrte. Er lebt leider schon länger nicht mehr, aber wir hatten eine Zeitlang Kontakt. Detlev interessierte sich sehr für Kunst, er hat auch mal einen Katalogtext geschrieben über meine Arbeit. Darin kommt diese Aussage allerdings nicht vor. Ich kann also nicht genau sagen, was die Quelle ist. Ich behaupte es einfach mal weiter, weil die daraus resultierende Unterscheidung der Rezeption von Sprache und von Bild überaus interessant ist. Gerade in Bezug auf die dominierende begriffliche Wahrnehmung von Fotografien.
Es ist genau wie mit dem Finden und Erfinden. Einfach ein guter Satz.
Als ich mit dem Fotografieren begonnen habe, wollte ich rausfinden, wie viel man in einer Fotografie eigentlich weglassen kann. So wurden Abbilder zu Stillleben, und die wurden immer abstrakter. Konkrete Fotografie, die versuchte, ungegenständlich zu werden, und dem Referenzrahmen die Eigenständigkeit eines Bildes hinzuzufügen. Das habe ich sehr weit getrieben, bis in die frühen 90er Jahre. Dann hatte ich das Gefühl, formal so routiniert zu sein, dass ich alles in ein Bild verwandeln kann, in dem Ort und Zeit keine Rolle mehr spielen. Aber die Frage fing an mich umzutreiben, ob ich nicht darüber zum Ästhet geworden war, denn das war für mich eher negativ besetzt. Ich wollte nicht Kunst um der schönen Kunst Willen produzieren.
Das Versprechen der Fotografie ist es ja auch, dass jeder Mensch ein Foto machen kann, möglicherweise sogar ein gutes.
„You push the button, we do the rest“. Ja, so kennt man den Spruch von Kodak.
Und das ist doch auch super. Es ging in der Amateurfotografie ja hauptsächlich darum, jemanden wiederzuerkennen. Wir sprechen hier von zwei, drei Generationen von Leuten, die noch an Diaabenden teilnehmen mussten, für die ein Foto nach dem anderen projiziert wurde. Und dann stand jemand am Projektor, der zum Beispiel erzählte: „Das sieht man jetzt hier auf dem Bild nicht, aber das war genau an dem Tag, wo das und das passiert ist. Und gleich nach dem Foto ist dies und das passiert…“. Das Bild fungiert als Erinnerungshilfe – die Fotografie als Beweis, dass man am eigenen Leben teilgenommen hat. Aber es ist auch sehr langweilig für alle, die nicht dabei waren, die also den ursprünglichen Kontext nicht über das Foto nachvollziehen konnten.
Du hast sehr früh angefangen, Fotos digital zu bearbeiten, und bald auch die anderer Leute – Amateurfotografien, gefunden oder gesammelt.
Als ich das Gefühl hatte, formal alles im Griff zu haben, tauchte immer mehr eine andere Frage auf: ist nicht bereits alles fotografiert worden, was ich mit Bildern zu machen versuche? Kann ich künstlerische Arbeiten machen, mit denen ich meine Gegenwart für in zwanzig Jahren lesbar erhalte? Das kann nicht gehen, wenn ich mit Absicht nach Beweismitteln suche. Dazu habe ich der Fotografie zu wenig über den Weg getraut. Ich war der Meinung, ich müsste diese fotografischen Bilder erst irgendwie transformieren. Damals habe ich dann angefangen, mir intensiver Fremdmaterial anzugucken.
Wann ging das los?
Schon relativ früh, noch zu Akademiezeiten oder vielleicht gerade danach in den Achtzigern. Ich habe mir Fotoalben geliehen oder auch mal welche aus dem Container gezogen. Ich habe zunächst versucht, Reproduktionen von Ausschnitten dieser Fotos zu machen. Wir hatten eine Farb-Dunkelkammer in der Becher-Klasse, und wenn ich meine Ergebnisse darin professioneller vergrößere und die Farbstiche rauskriege, dachte ich, dann könnte das ja vielleicht schon ein Schritt sein. Es funktionierte so aber leider noch nicht wirklich. Ich habe früh eine Affinität zu Computern gehabt und Programmiersprachen gelernt. Aber es war lange kaum vorstellbar, dass man mit einem Rechner Bilder bearbeiten könnte.
Ab wann war es überhaupt möglich, Fotografien digital zu bearbeiten?
Ab Anfang der 90er. Davor gab es zwar bereits superteure Maschinen, mit denen man schon irgendwie Bilder machen konnte, und auch die erste Digitalkamera. Aber das war alles experimentell und für mich als anwendbares Tool nie eine Option.
Es gab noch keine Scanner, um analoge Bilder zu digitalisieren?
Doch, es gab schon Scanner. Ich hatte einen Bekannten, dem ein Druckvorstufenbetrieb gehörte. Der hat mir auf einem sündhaft teurem Trommelscanner meine ersten fünf Scans machen lassen. Sie benötigten so viel Speicherplatz, dass jedes einzelne Bild auf acht Disketten aufgeteilt werden musste. Dazu wurde jede Datei zunächst geringfügig durch ein Kompressionsprogramm verkleinert und in passende Teile zerlegt, damit die Bilddaten überhaupt auf Disketten transportiert werden konnten.
Das kann man sich heute nur noch schwer vorstellen.
Es war eine Übergangszeit. Ich hatte wie gesagt schon früh eine Affinität zu Computern und Programmierung und fand es auch interessant, ein bisschen in dieser Szene unterwegs zu sein. Dort wurden untereinander Programme ausgetauscht – warten auf den nächsten Diskettenwechsel, und sprechen zu zweit vorm Monitor. Kein Internet, nur Mailboxen und „Datenfernübertragung“, die zu langsam für größere Dateien war. Aber es gab damals bereits die ersten Bildbearbeitungsprogramme. Ich kam über das „Tauschen“ so ganz selbstverständlich in Wohnungen, die ich sonst nie hätte betreten können. Es war dann einfach danach zu fragen, ob ich etwas in der Wohnung fotografieren kann. Ich habe nicht im Studio Motive erfunden, sondern die Motive irgendwo gefunden.
Wann hast Du zum ersten Mal daran gedacht, einen Bilderspeicher aufzubauen?
Mit dem Schritt, digitalisierte Bilder zu bekommen kam sehr schnell der Wunsch danach, einen eigenen Scanner zu besitzen, um die gefundenen Bilder aus den 80er und 90er Jahren zu digitalisieren und am Rechner zu manipulieren. Problemstellen konnte ich jetzt einfach herausnehmen.
Problemstellen im Sinn von Bildbereichen, die nichts taugen.
Ja und nein: Problemstellen, die das Potential des Bildes überlagern oder verdecken. Ich habe eigentlich immer vom Bild her gearbeitet. Ähnlich wie ein Bildhauer vor einem Stück Material steht und weiß, dass darin irgendwo seine Plastik steckt, musste ich erst alles Unnötige entfernen, damit ich meine Arbeit sehen konnte. Bald hatte ich eine wachsende Sammlung an Material. Und da ich mir zu der Zeit mit der Programmierung von Datenbanken Geld verdient habe, war es für mich naheliegend, dass ich die gescannten und überarbeiteten Fotos in eine Datenbank aufnehme, um sie zum Beispiel zu kategorisieren. Als die Sammlung deutlich angewachsen war, erschien mir das Material kulturhistorisch so interessant, dass ich darüber nachdachte, es zu veröffentlichen. In Grenoble hatte ich im Herbst 2004 eine Ausstellung, deren Architektur ich selbst gestalten konnte. Dafür habe ich Wände bauen lassen, die eine einzige, lange Flucht erzeugten. Darin hingen einseitig ungefähr 145 Bilder, deren Abfolge und Auswahl ich mithilfe meiner Datenbank zusammengestellt hatte. An der durchgehenden Wand nahmen sie den Charakter einer langen Erzählung an. Leise beginnend mit Naturdarstellungen, mal ein erstes Tier, dann Architektur, Menschen, Urbanes.
Wie wurde das aufgenommen?
Schon beim Aufbau erzeugte diese „Erzählung“ an der Wand eine starke persönliche Nähe bei den Beteiligten vor Ort. Später setzte sich das beim Publikum fort, weil die Besucher merkten, dass das, was sie in der Ausstellung sahen, sehr viel mit Omas Fotoalbum, dem der Eltern oder des eigenen zu tun hatte. Ich dachte, dass diese Nähe meiner „Skizzen“ auch helfen könnte, sich meinen anderen Arbeiten, den Tableaus, zu nähern, die alle eigentlich auf demselben Prinzip basieren, nur deutlich weiter ausgearbeitet sind. Mit dieser Zufriedenheit und der guten Resonanz beim Publikum kam bei mir wie so oft im Nachhinein auch eine Skepsis auf. Ich befürchtete, zum Romancier zu werden. Und der wollte ich doch nicht sein. Die lange, erzählerische Wand in Grenoble war linear – die Entsprechung zu ihrer Herstellung aus einer relationalen Datenbank also komplett unsichtbar geblieben. Deshalb begann ich daran zu arbeiten, das Besondere einer Datenbank sichtbar zu machen, die nicht linearen Verhältnisse.
Ein Romancier erzählt Geschichten, die Figuren wiederfahren, mit denen man sich als Leser irgendwie identifizieren kann. Das scheint tatsächlich nicht zu deinem Ansatz zu passen.
Meine Ausgangsfrage war: Wie kann ich eine Form dafür finden, dass jedes Bild gleichwertig ist? Denn das Meiste in der Welt passiert immer gleichzeitig. Man verpasst alles, bis auf das, womit man gerade konfrontiert wird. Würde es gehen, diesen Umstand in eine komplett analoge Form zu übertragen? Acht Jahre zuvor hatte ich eine Einzelausstellung im Kölnischen Kunstverein, damals war dort Udo Kittelmann Direktor. Mithilfe eines von mir programmierten Werkverzeichnisses im Ausstellungsraum konnte man alle Bilder, die ich bis 1996 gemacht hatte, unter anderem auch kategorisiert per Touchpad an einem Monitor in der Mitte des Raumes aufrufen. Das Essentielle dabei ist, dass ein Bild in einer solchen relationellen Datenbank eben nicht nur einmal auftaucht, sondern mehrmals unter den verschiedenen Begriffen, die damit verknüpft wurden. Heute nichts Ungewöhnliches, damals für die meisten Menschen kaum nachvollziehbar.
Das Foto wird verschlagwortet.
Ja, es wird verschlagwortet. Was umgehend vorführt, wie wirkmächtig eigentlich Sprache und Begrifflichkeit beim Blicken auf Bilder sind. Da kommen wir wieder zum Kontext. Der Apfel, um auf das Beispiel von vorhin zurückzukommen, ist hier in einem Ausstellungsraum etwas ganz anderes als auf dem Markt. Wenn man das Visuelle erlebbar macht, wird es natürlich total verrückt, weil es sich nicht nur ohne Sprache vermitteln lässt, sondern auch zu eigener Erfahrung wird.
Weil man es unmittelbar und praktisch selbst erfährt anstatt nur davon zu lesen.
Genau. Eben habe ich dasselbe Bild unter dem Schlagwort „Beton“ gesehen, und jetzt sehe ich es erneut, aber einem anderen Begriff zugeordnet. Und nun ich sehe etwas ganz anderes auf dem Bild. Bei „Speicher II“ ist es so, dass ungefähr die Hälfte der Schlagwort-Kategorien referentiell sind. Das heißt, es geht eher um das, was vor der Kamera zu sehen war. Die andere Hälfte sind eher Kategorien, die sich auf das Bild selbst beziehen.
Funktionieren die großen Bilddatenbanken von heute genauso?
Das kommt auf die Datenbank an. Es gibt Szenarien, in denen die Verwendung einer relationalen Datenbank schwierig ist, weil bestimmte Elemente zu unterschiedlich sind, um sie klar zuweisen zu können. Wo begegnen wir heute hauptsächlich Datenbanken? Auf dem Smartphone und im Internet natürlich. Jedes Shopping-System basiert immer noch auf relationalen Datenbanken, und auf dem Sammeln und Auswerten von dem, was wir im Netz an Spuren hinterlassen.
Was genau bedeutet in diesem Zusammenhang eigentlich relational?
Dass es mehr als eine definierte Beziehung gibt: am Beispiel der Speicher etwa kann jedes Bild in jeder Kategorie vorkommen. Und die Anzahl der Bilder und auch die Anzahl der Kategorien sind prinzipiell unendlich. Im Fall dieses Speichers ist sie das natürlich nicht. Die 512 Bilder darin haben alle eine eindeutige Nummer, und die Kategorien in diesem Fall von 1 bis 56. Die Frage ist, wie man beides zusammenbringt? Eine einfache, direkte Zuweisung wäre es wenn man sagte, dieses oder jenes Bild gehört zum Beispiel in die Kategorie 17. Aber eigentlich gehört es ja auch noch in die Kategorie 7. Ich habe eine Tabelle angelegt, in der einfach nur die Bild-Nummer und Kategorie-Nummer eingetragen werden. Bild 1 gehört darin zur Kategorie 17 und gleichzeitig zur Kategorie 35, und auch zu Kategorie 56. Man kann der Datenbank also die Anweisung geben: „Zeig mir alle Bilder aus der Kategorie 17“. Man kann aber auch von den einzelnen Bildern ausgehen und sich alle Kategorien anzeigen lassen, in die das Bild einsortiert wurde. Das ist die simpelste Form von der Relationalität in einer Datenbank.
Die Datenbank bietet also die Möglichkeit, mit vielen Bildern organisatorisch umzugehen. Nun hat die Bilderflut des digitalen Zeitalters aber noch einmal eine ganz andere Dimension als zu Beginn deiner Arbeit mit den „Speichern“.
Wie ich eben sagte: die Zahl der Bilder ist unendlich, die Zahl der Kategorien aber auch. Strukturell besteht da kein Unterschied, der Unterschied besteht in der Kapazität.
Handelt es sich bei „Speicher“ um eine Strategie, die Unabbildbarkeit der Welt zu bewältigen? Die Realität ist ja, wie wir eben mit Bezug auf das Fotografieren und Zeichnen festgestellt haben, nicht erschöpfbar. Und mit Unendlichkeit kommen wir Menschen nicht gut zurecht.
Meine künstlerische Intervention ist es zu sagen: ich habe 512 Bilder und 56 Kategorien, nicht mehr. Das ist die Setzung. Und jede dieser Kategorien ist eine Setzung, eine Entscheidung. Jedes Bild ist eine Entscheidung. Ich finde es wichtig, dass es nicht irgendein beliebiges Bild ist. Bei der hier ausgestellten Arbeit „Speicher II“ geht es darum, wie dokumentarische Fotografie heute aussehen könnte, oder besser: Fotografie im dokumentarischen Stil. Es ist eine Art Versuchsanordnung. Jenseits von linearen Strukturen.
Für „Speicher II“ hast du dich entschieden, eine geografische Region in den Blick zu nehmen. Alle ursprünglich 5000 Fotografien stammen aus dem Ruhrgebiet. Hast du diesen Bilderbestand durchforstet und geschaut, ob welche davon in deine Kategorien passen?
Nein, es ist genau andersherum. Ich durchforste die Bilder, aber erst dabei komme ich auf Begriffe, die mir vielleicht weiterhelfen. Nehmen wir an, du schreibst einen Artikel und möchtest eine Illustration dazu haben. Dann kannst du zu deinem Bildredakteur sagen, such mir doch mal etwas zum Thema „Düsseldorf, Hochwasser, 80er Jahre“.
Das wäre noch relativ einfach. Schwierig wird es, wenn es kein konkretes Ereignis gibt, von dem ein direktes Bild existiert, sondern ein Thema illustriert werden soll.
Super, dass du das sagst, denn das ist genau das Problem. Die Fotografie wird in diesem Zusammenhang nur illustrativ eingesetzt. In der großen Zeit des Bildjournalismus wurden Menschen beauftragt in Bildstrecken eigenständig zu einem Thema zu arbeiten. Also in diesem Fall etwa zum Hochwasser am Rhein. Der Untergang dieser Form von journalistischer Fotografie hat damit angefangen, dass die Bilder in relationalen Datenbanken verschlagwortet wurden. Ein sprachbasiertes Referenzsystem hat eigenständige Bilder zu Illustrationen von Begriffen gemacht. Fotografinnen und Fotografen kennen sich heute relativ gut in dieser Verschlagwortung aus und produzieren Bilder, die in möglichst vielen Kategorien vorkommen, damit sie möglichst oft verkauft werden.
Im „Speicher“, der nicht vom Begriff, sondern vom Bild aus geht, soll eben auch genau der Shift der Verwendung von Fotografie gezeigt werden. Mein Anspruch beim Speicher ist, dass jedes Bild als Einzelbild funktionieren muss, das schützt vor eindimensionaler Vereinnahmung durch Sprache.
Das Besondere an den „Speichern“ ist, dass sie immer wieder neue Hängungen erlauben. Dabei ist die Kombination der Bilder aber keinesfalls zufällig, richtig?
Es gibt maximal 70 Bilder in einer Kategorie. Aber nur weil Bilder in einer Kategorie begrifflich zusammen gehören, heißt das nicht, dass sie nebeneinander gut aussehen. Deshalb habe ich ein System entwickelt, in dem ich bewerte, wie gut ein Bild zum anderen passt. Die Skala reicht von 1 bis 5. Egal in welcher Kategorie sie auftauchen, lässt sich so ablesen, welches Bild man gut links oder rechts von einem anderen platzieren kann. Man kommt von einem Bild zum nächsten, und von diesem wieder zu einem weiteren.
Die vielen möglichen Anordnungen sind also sozusagen vorkuratiert.
Es ist ein System, das einen leichten Einstieg ermöglicht, mit dem man aber dennoch zu plausiblen und oft spannenden Ergebnissen der Bildkombinationen kommt. Wenn wir aber eines der Bilder – hier an der Wand aus der Kategorie „Rituale“ – abhängen und durch ein anderes ersetzen, dann wird sich sehr wahrscheinlich eine komplett andere „Aussage“ der Bildreihe ergeben.
Lieber Jörg Sasse, vielen Dank für das Gespräch!
–
Das Gespräch führte Boris Pofalla.
Siehe auch:
Website von Jörg Sasse: c42.de
–
Mit freundlicher Unterstützung:
Kulturamt der Landeshauptstadt Düsseldorf
12/08/2024
Online-Release
Interview
Jörg Sasse im Gespräch
Lieber Jörg, an zwei Abenden hast Du hier im Projektraum des DFI e.V. über deine Arbeit „Speicher II“, aber auch über deine künstlerische Praxis im Allgemeinen gesprochen. Wie war das für Dich?
Am ersten Abend habe ich einen Vortrag über meine Arbeit gehalten, der erstmals chronologisch war. Das hatte ich vorher immer vermieden, denn ich versuche, jeden Vortrag neu und mit anderen Schwerpunkten zu halten, so dass es für mich spannend bleibt. Aber als ich den Projektraum sah, der ja direkt gegenüber der Kunstakademie liegt, war es naheliegend, die Herausforderung anzunehmen, die Sache einmal chronologisch anzugehen.
Was hat diese chronologische Herangehensweise für Dich bewirkt?
Jahrzehntelang war ich der Meinung, dass die Arbeit, die ich mache, einem großen Puzzlespiel ähnelt, bei dem sich die Dinge hier und da verdichten und erst im Lauf der Zeit klarer wird, was das eigentlich alles ist. Aber bis heute weiß ich nicht mal, wieviele Teile es sind! Doch dann saß ich im Workshop mit Studierenden der Kunstakademie, redete und sah dabei gelegentlich zum Fenster hinaus auf das Akademiegebäude. Ich musste daran denken, dass ich vor genau einundvierzig Jahren dort angefangen hatte, Kunst zu studieren.
Wie darf man sich den Studienanfänger Jörg Sasse vorstellen?
Ich kam mit einem großen Autoritätsproblem an die Akademie, wo etwas passierte, das ich mir so gar nicht hätte wünschen können, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass es existieren könnte.
Was war das?
Die Form von Freiheit. Diese Akademie als Kiste als ein großer Raum, in dem etwas Unerwartetes passieren kann. Und soll! Der Freiraum ist vielleicht im Lauf der Zeit weniger geworden, durch Studienordnungen und Vergleichbarkeitsfantasien von bürokratischer Seite.
Damals, ich erinnere mich genau, bekamen alle neuen Studierenden der Akademie ein hektografiertes Blatt, auf dem stand sinngemäß, man solle sich bitte darüber im Klaren sein, dass die Ausbildung an der Kunstakademie sehr wahrscheinlich nicht dazu führen würde, dass man damit seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Und dass man gut beraten wäre, wenn man sich ein kommerzielles zweites Standbein suchte. Wobei „kommerziell“ gar nicht der Begriff war der da verwendet wurde.
Gemeint war wohl ein bürgerlicher, ein sogenannter normaler Beruf.
Ein Gelderwerb, ja. Und als ich das damals gelesen habe dachte ich mir: hier bin ich genau richtig. Den Zettel habe ich später oft gesucht, aber nie wiedergefunden. Vielleicht liegt die Vorlage davon noch irgendwo im Archiv der Akademie.
Du bist im Jahr 1982 an die Kunstakademie Düsseldorf gekommen. Zehn Jahre zuvor war Joseph Beuys entlassen worden, weil er sich weigerte, Bewerber abzulehnen. Er wollte alle aufnehmen. War Beuys noch präsent als Du angefangen hast?
Er behielt einen Raum, durfte aber nicht weiter unterrichten. Es war lustig, weil der Raum der Beuysklasse dann hauptsächlich von der F.I.U. [Free International University] benutzt wurde. Dort hing eine Tafel an der Wand, auf der stand: „Nur noch 2190 Tage bis zum Ende des Kapitalismus“. Soweit ich mich erinnere, wurde die Zahl gelegentlich ausgewischt und neu eingetragen. Es waren die Nachwehen der 70er Jahre. Der Geist von Joseph Beuys schwebte also noch eine Weile durch die Hallen. Und gelegentlich war Beuys selbst auch vor Ort zu sehen.
Sein Konflikt mit der Akademie entzündete sich daran, dass Beuys sämtliche Bewerber für ein Kunststudium aufnehmen wollte. Das konnte er nicht durchsetzen.
Und die Versuche, es durchzusetzen, führten zu seiner Kündigung, die nach langem Rechtsstreit in einem Vergleich mit dem Land endete. An der Akademie muss man sich am Ende aber doch darauf geeinigt haben, dass es vielleicht nicht so schlecht wäre, mehr Bewerber aufzunehmen. Und dass diese Studienanfänger erst einmal ein Jahr lang alle zusammen fächerübergreifend in einen sogenannten Orientierungsbereich kommen sollten. Als ich herkam, gab es an der Nordseite des Akademiegebäudes einen Anbau aus Fertigbauteilen, in dem die jeweils ersten beiden Semester gemeinsam untergebracht waren. Ein intensives, teils sehr explosives Gemisch. Dennoch war die Zeit hier für viele Studierende eine der intensivsten der ganzen Akademiezeit, eine tolle Auseinandersetzung.
Wie sah der Unterricht im Orientierungsbereich aus?
Es gab weder Aufgaben noch Verpflichtungen, an irgendwelchen Lehrveranstaltungen teilzunehmen. Genau das war aber wahrscheinlich die Zeit während des Studium, in der die meisten Studierenden viel vor Ort präsent waren. In den ersten Semesterferien wurde dann auffällig, dass einige der Meinung waren, es seien ja jetzt Ferien, und da ist dann eben Pause mit der Kunst und mit dem Arbeiten. Das fand ich eher merkwürdig.
Du hast keine Pause gemacht?
Nein. Ich habe 1982 mit dem Studium angefangen. Die Zeit der APO, also der Außerparlamentarischen Opposition, war da lange schon vorbei. Außerhalb der Gesellschaft zu stehen war gestern. In diesem System und nicht außerhalb musste man einen Platz finden. Und ich wollte etwas machen, für das nur ich selbst die Verantwortung übernahm. Das war das Versprechen der Kunst. Ich hatte vorher Musik gemacht und war auch mit einer Band aufgetreten. Dabei war ich aber deutlich mehr auf die Launen und Stimmungen anderer angewiesen – und die anderen auf meine. Das war schwierig für mich.
Du bist dann in die Klasse von Bernd Becher gekommen, die erste entsprechende Fotoklasse überhaupt an einer Kunsthochschule, die berühmte Becherklasse. Wie kam es dazu?
In diesen ersten Wochen an der Akademie sagte ein Dozent zu mir: „Sie sind Fotograf, da müssen Sie mal den Bernd Becher kontaktieren“. Fotografiert hatte ich immer - ich kam schon mit den ersten Zehntausend überwiegend schwarzweißen Negativen nach Düsseldorf - , aber je länger ich an der Akademie war, desto weniger interessierte Fotografie mich. Dennoch machte ich weiter Fotos, hatte aber überhaupt nicht die Vorstellung, dass das irgendwas mit Kunst zu tun haben könnte. Dann musste ich mich trauen, Bernd Becher anzurufen und ihm sagen, dass mir ein Dozent geraten hat, dass ich ihn mal treffen soll.
Bernd Becher hat zusammen mit Hilla Becher neben seiner Lehrtätigkeit intensiv die eigene Kunstpraxis betrieben. Wie ging das zusammen mit einer intensiven Betreuung von Studierenden?
Bernd hat mir erzählt, dass er überredet worden war, diesen Job zu machen. Die Bechers hatten nicht viel Geld, waren aber überzeugt davon, dass sie ihre Arbeit weiterführen wollten. Bernd hatte, so sagte er mir, die Professur an der Akademie nur unter der Bedingung angenommen, dass er sich nicht in irgendwelche Gremien einmischen musste. Und das hat er auch nie getan.
Wie war Bernd Becher als Lehrer?
Für mich ziemlich klasse. Er hatte an der Kunstakademie Düsseldorf einen Sonderstatus, wenn man so will. Bernd suchte sich unter den Studierenden die fotografischen Positionen aus, mit denen er etwas anfangen konnte. Und diese Studierenden nahm er dann in seine Klasse auf. Ich hatte damals eine grundsätzliche Skepsis allen Menschen über dreißig gegenüber. Nicht aus politischen, APO-Gründen – ich hatte einfach echt schlechte Erfahrungen gemacht. Und dann war da auf einmal jemand, der mir zuhörte und mit dem ich reden konnte.
Was waren Eure Themen?
Wir haben viel über Malerei und über Politik gesprochen und gar nicht so viel über Fotografie. Obwohl ich ja erst nach einem Jahr sozusagen in seine Klasse hätte kommen können, hat er mir nach einem halben Jahr bereits angeboten, mit einer Großbildkamera zu arbeiten. Und so fing ich im zweiten Semester schon damit an, in der Klasse Becher zu arbeiten. Ich wollte damals aber eigentlich noch Bildhauerei machen.
Dein zweiter Lehrer an der Akademie war der Bildhauer Norbert Kricke.
Norbert Kricke war damals schon pensioniert, hatte aber noch eine Klasse, die sein Assistent weiterführte. Kricke hatte ich vorher schon kennengelernt, weil ich ihn mit Luise Kimme, der Professorin des Orientierungsbereiches, auf der Ratinger Straße getroffen hatte. Er kam uns entgegengeschlurft in seinem langen Mantel, und dann unterhielten die beiden sich und Luise sagte, „Norbert, komm doch mal mit in den O-Bereich und erzähl den jungen Leuten mal ein bisschen was“.
Was hatte Norbert Kricke zu sagen? Erinnerst Du dich an Einzelheiten?
Er hat einiges erzählt, doch das Einzige, was ich nie vergessen habe war seine Aussage, dass, wenn man sich in seiner Kunst spezialisiert und forscht, damit auch immer weiter kommt. Dies bedeute gleichzeitig aber auch, dass andere eben immer weniger mitkommen. Man werde einsamer, und deshalb müsse man echt aufpassen. Mittlerweile weiß ich, dass es stimmt. Man muss als Künstler aufpassen, sein Korrektiv nicht zu verlieren. Man muss Kontakte pflegen zu Menschen, die offen und kritisch sind. Und nach außen helfen, den Zugang zur Arbeit offen zu halten.
Wir sprechen hier vom Anfang der 1980er. Was war damals die Stimmung unter den Düsseldorfer Kunststudenten? Was war der Vibe?
Es war zu einer Zeit, als man Kunst zwar auf Lehramt studieren konnte (was Beuys lange propagiert hatte), doch inzwischen war es wegen einer vorhandener „Lehrerschwemme“ eher unwahrscheinlich geworden, nach dem Studium auch einen Job zu bekommen. Ich glaube, diesen Kontext zu kennen ist wichtig. Für viele war es nicht einfach, an Zukunft zu glauben: es war eine desperate Zeit. Im Alter zwischen 15 und 25 sieht man sich am Ende der Geschichte stehend. Ich habe mit zwanzig nicht geglaubt, dass ich das Jahr 1984 erleben würde, also 22 werden könnte. Es war eine gefühlt dramatische Situation. Was wird aus der Umwelt? Eskaliert der Ost-West-Konflikt? Aber ich war mit meinem Gefühl nicht alleine.
Umso wichtiger in einer solchen Situation sind dann die Lehrenden.
Die Akademie ist eine Schutzzone, in der auch damals schon eine Menge desperater junger Menschen zusammenfand. Für viele klappte es, den richtigen Betreuer oder die passende Betreuerin zu finden. Das Spektrum reichte von Konrad Klapheck, der jeden Tag mit dem Fahrrad in die Akademie kam und alle paar Stunden in seine Klassenräume links und rechts seines eigenen Ateliers hineinschaute, um zu sehen, was die Studierenden so machten. Er war einer, der dann auch mal gesagt hat: „Nee, das geht so nicht, das musst du anders machen, gib mir mal den Pinsel“. Nam June Paik dagegen tauchte ein- bis zweimal im Semester auf, sah sich alles an, meinte „Super, weiter so“ und lud dann alle zum Essen ein. Danach war er wieder weg.
Eine solche Haltung setzt voraus, dass man schon als Student sehr, sehr eigenständig ist.
Ja. Und das gehört zu dem, woran damals viele Kommilitoninnen und Kommilitonen gescheitert sind. Die hatten die Erwartung, ich gehe jetzt zur Akademie und dort wird mir beigebracht, wie man Kunst macht. So geht es aber halt gar nicht.
Nach meiner anfänglichen Faszination für die Akademie kam die Skepsis. Ich hatte gemerkt, dass nicht alle aus innerer Überzeugung hergekommen waren, sondern weil z.B. ihr Kunstlehrer ihnen gesagt hatte, dass sie gut zeichnen können oder weil manche Eltern es unheimlich toll fanden, wenn die Kinder Kunst studieren. Man kann jetzt darüber streiten, ob man Kunst überhaupt unterrichten kann…
Kann man?
Ich würde sagen ja. Man kann ziemlich viel aus dem Umfeld und von der eigenen Erfahrung vermitteln, und man kann neugierig machen. Man kann ermutigen, an der eigenen Basis zu arbeiten und helfen, sie zu finden. Also das, was vielleicht das Eigene sein könnte. Das da kann man unterstützend fördern. Aber man kann natürlich schwer jemandem beibringen, über einen ziemlich langen Zeitraum selbstmotiviert zu arbeiten –und sich selbst dabei auch zu ertragen. Mit der bildenden Kunst ist es ja nicht so, wie bei Musikern oder Schauspielern, die auf einer Bühne etwas vortragen für ein Publikum, das sich abwendet oder applaudiert oder euphorisch ist und damit sofort etwas zurückgibt. Resonanz ist in der bildenden Kunst eher schwer und indirekt zu bekommen. Und es stellt sich die Frage, ob das Einzelkämpfertum gesellschaftlich und kommerziell überhaupt notwendig ist. Die Genius-Nummer bedienen einige Künstler trotzdem weiter sehr gern, weil sie einfach auch gerne Popstar sein wollen. Dann ist es natürlich hilfreich. In Anführungszeichen.
Warum ist eigentlich Finden origineller als Erfinden? Das ist ein Zitat von Dir.
Von mir? Könnte sein. Ich überlege gerade, woher das kommt. Es könnte auch von Karl Valentin stammen. Die schrägsten Geschichten findet man, die erfindet man nicht. Ich habe das immer gerne übertragen. Ich habe also während des Studiums an der Akademie herausgefunden, dass ich mich dort in einem Schutzkasten befinde, den nach außen in die Welt zu verlassen schwierig ist. Wenn ich aber zwischen mich und die Welt zum Beispiel eine Kamera halte, dann macht das etwas. Es bringt mir ein Stück Sicherheit. Eine große Klappe zu haben ist ja ganz oft auch eine Abwehrreaktion. Aber die große Klappe ist nicht mehr so wichtig, wenn eine Kamera Schutz bietet.
Die Fotografie ermöglicht einem also Weltzugang. Aber kann man die Welt vor der Kamera überhaupt abbilden?
Kann man denn die Welt zeichnen?
Sicher nicht erschöpfend, aber in Teilen. Es ist nicht dasselbe.
Doch! Das habe ich so noch nie gesagt, aber vielleicht macht es die Sache klarer. Zeichnung bedeutet auch Transformation. Es ist ein technisches Vermögen, zeichnen zu können, also die Kenntnis im Umgang mit einem Medium zu haben. Bleibt die Frage wofür. Für einen Architekten würde es im Fall dieses Raumes hier reichen, eine Grundrisszeichnung zu haben und Höhenangaben. Heute würde man wohl ein 3D Modell machen, aber auch das wäre nur eine Konstruktion. Das ist mit der Kamera natürlich ebenso. Bei der Kamera kommt jedoch die Schwierigkeit dazu, dass auf einem Foto schon alles drauf ist was sich vor der Linse befunden hat. Das ist kein Vorteil, sondern meistens ein Nachteil.
Müsste es nicht eigentlich ein Vorteil sein?
Bei der Zeichnung fängt man mit dem leeren Blatt an. Man macht die ersten Striche und merkt vielleicht: „Mist, das war's nicht, ich fange lieber noch mal an“. Und jetzt meinen natürlich manche Leute, ein Foto würde die Realität zeigen, weil es in seinem Ausschnitt eine Ähnlichkeit zu dem zeigt, was man selbst gesehen hat. Das ist natürlich schon ganz lange Quatsch. Oder schon immer.
Das Foto sieht aus wie ein Stück Realität, ist es aber nicht?
Ja, aber sind denn romantische Malereien nicht auch Realität? Der Realismus in der Malerei, der schon ganz alt ist und oft auch mit dem täuschend echten Abbild daher kommt? Oder manche Stillleben aus dem 16. Jahrhundert? Da ist es so, dass der Mensch die ganze Sache gemacht hat. Bei der Kamera existiert eher die Vorstellung, dass es eigentlich das Können der Maschine war. Aber vielleicht gibt es auch jemanden, der ein Interesse daran hat zu behaupten, dass dieses oder jenes Foto die Realität darstellt. Im Düsseldorf der 80er Jahre war die Werbebranche sehr präsent, auch die Modeindustrie. Ich kannte ein paar Werbefotografen, die mich bei ihrer Arbeit haben zusehen lassen. Diese Art von Fotografie ist natürlich von vorne bis hinten Konstruktion. Eiskaltes Bier zu fotografieren ist eben ein Fake, eine Komplettkonstruktion. Aber noch ohne Rechner. Das musste alles irgendwie im Studio inszeniert werden, und darin waren einige in Düsseldorf Meister.
Wenn ich solche Werbefotos sehe, dann weiß ich erfahrener Konsument aber doch, dass das im echten Leben so nicht aussieht. Wenn ich die Fotografien von Laien vor mir habe, gehe ich mal davon aus, dass die diese Skills gar nicht haben.
Vielleicht solltest Du nicht davon ausgehen: in den letzten Jahren hat die verfügbare Technik auch in der Laienfotografie das Niveau des Outputs deutlich angehoben. Inzwischen korrigiert KI – und die steht damit noch am Anfang.
Das Problem ist der Begriff der Realität. Ich glaube, dass wir mit diesem Begriff möglicherweise gar nicht weiterkommen, weil er zu schwammig ist. Und das ist ganz eine schöne Vorlage, denn nun kommen wir wirklich zu Aspekten, die in meinen „Speichern“ wichtig sind.
Speicher ist eine Werkgruppe, die du 2008 erstmals ausgestellt hast. Mittlerweile existieren vier Fassungen, die allesamt physisch im Raum präsent sind. Das macht die digitale Bilderflut handhabbar oder vermittelt zumindest das Gefühl davon. Ist das die Absicht dahinter?
Heute spricht man gerne von Blasen, insbesondere auf Social Media. Warum gibt es darin heute so viele rechtsextremere Positionen? Von wem werden sie forciert? Wie werden diese Blasen aufgebaut? Inzwischen sind Algorithmen und KI in dieser Hinsicht total wichtig geworden – weil das, was Aufmerksamkeit erzeugt, über Werbung auch Geld generiert. In der Optimierung des Systems geht es nicht darum, Wahrheit von Fälschung zu unterscheiden, oder die Realität von der Nicht-Realität. Dem Algorithmus ist die Erzählung dahinter vollkommen egal!Aber der Kontext ist essenziell: liegt der Apfel auf dem Marktstand als letzter im Korb, dann denkst du vielleicht: „Es gibt nur noch einen Apfel, den kaufe ich mal“. Aber wenn du jetzt hier reinkommst und von der Decke genau auf deiner Augenhöhe würde eben dieser Apfel hängen und sonst nichts, dann würdest du ganz anders über diesen Apfel nachdenken.
Ich würde zum Beispiel nicht reinbeißen.
Ja, das ist gut: jedenfalls nicht jetzt, in der Mitte der 20er Jahre des 21. Jahrhundert, Das eröffnet das wichtige Thema des Zeitkontexts in der Rezeption. Also: Kontext ist Raum. Und Kontext ist Zeit. Im Jahr 1972 wärst du vielleicht hier reingekommen, hättest den Apfel genommen und hineingebissen, weil er vielleicht Teil einer Performance gewesen wäre, oder du es so verstanden hättest. Über deine Sozialisation in der Zeit wäre es dir vermutlich völlig plausibel erschienen.
Ich hätte vielleicht auch keinen großen Respekt vor Leuten gehabt, die Äpfel in Ausstellungsräume hängen.
Nein, du hättest dich vielleicht gefragt: „Was für eine Kiste ist das hier eigentlich, in der ein Apfel von der Decke hängt? Von wem wird die betrieben? Was ist meine Rolle in diesem Kontext?“ Entweder aus Respektlosigkeit oder aus Freude darüber, dass jemand so eine schräge Geschichte macht, wäre der Apfel von dir aufgegessen worden. Und dann ist er weg. Was ist Abwesenheit, was Verlust, oder was Leerstelle, die zu füllen ist. All das wäre damit zum mögliches Erfahrungsfeld geworden, ohne Text mit einer Handlungsanleitung an der Wand.
Zeit und Ort sind auch für unsere Rezeption von Fotografie die Hauptkriterien. Das ist ein Grund dafür, warum wir sie mit einer anderen Hirnhälfte wahrnehmen als Malerei.
Ist das so?
Detlev B. Linke hat mir das erzählt, ein Neurologe, der an der Universität Bonn lehrte. Er lebt leider schon länger nicht mehr, aber wir hatten eine Zeitlang Kontakt. Detlev interessierte sich sehr für Kunst, er hat auch mal einen Katalogtext geschrieben über meine Arbeit. Darin kommt diese Aussage allerdings nicht vor. Ich kann also nicht genau sagen, was die Quelle ist. Ich behaupte es einfach mal weiter, weil die daraus resultierende Unterscheidung der Rezeption von Sprache und von Bild überaus interessant ist. Gerade in Bezug auf die dominierende begriffliche Wahrnehmung von Fotografien.
Es ist genau wie mit dem Finden und Erfinden. Einfach ein guter Satz.
Als ich mit dem Fotografieren begonnen habe, wollte ich rausfinden, wie viel man in einer Fotografie eigentlich weglassen kann. So wurden Abbilder zu Stillleben, und die wurden immer abstrakter. Konkrete Fotografie, die versuchte, ungegenständlich zu werden, und dem Referenzrahmen die Eigenständigkeit eines Bildes hinzuzufügen. Das habe ich sehr weit getrieben, bis in die frühen 90er Jahre. Dann hatte ich das Gefühl, formal so routiniert zu sein, dass ich alles in ein Bild verwandeln kann, in dem Ort und Zeit keine Rolle mehr spielen. Aber die Frage fing an mich umzutreiben, ob ich nicht darüber zum Ästhet geworden war, denn das war für mich eher negativ besetzt. Ich wollte nicht Kunst um der schönen Kunst Willen produzieren.
Das Versprechen der Fotografie ist es ja auch, dass jeder Mensch ein Foto machen kann, möglicherweise sogar ein gutes.
„You push the button, we do the rest“. Ja, so kennt man den Spruch von Kodak.
Und das ist doch auch super. Es ging in der Amateurfotografie ja hauptsächlich darum, jemanden wiederzuerkennen. Wir sprechen hier von zwei, drei Generationen von Leuten, die noch an Diaabenden teilnehmen mussten, für die ein Foto nach dem anderen projiziert wurde. Und dann stand jemand am Projektor, der zum Beispiel erzählte: „Das sieht man jetzt hier auf dem Bild nicht, aber das war genau an dem Tag, wo das und das passiert ist. Und gleich nach dem Foto ist dies und das passiert…“. Das Bild fungiert als Erinnerungshilfe – die Fotografie als Beweis, dass man am eigenen Leben teilgenommen hat. Aber es ist auch sehr langweilig für alle, die nicht dabei waren, die also den ursprünglichen Kontext nicht über das Foto nachvollziehen konnten.
Du hast sehr früh angefangen, Fotos digital zu bearbeiten, und bald auch die anderer Leute – Amateurfotografien, gefunden oder gesammelt.
Als ich das Gefühl hatte, formal alles im Griff zu haben, tauchte immer mehr eine andere Frage auf: ist nicht bereits alles fotografiert worden, was ich mit Bildern zu machen versuche? Kann ich künstlerische Arbeiten machen, mit denen ich meine Gegenwart für in zwanzig Jahren lesbar erhalte? Das kann nicht gehen, wenn ich mit Absicht nach Beweismitteln suche. Dazu habe ich der Fotografie zu wenig über den Weg getraut. Ich war der Meinung, ich müsste diese fotografischen Bilder erst irgendwie transformieren. Damals habe ich dann angefangen, mir intensiver Fremdmaterial anzugucken.
Wann ging das los?
Schon relativ früh, noch zu Akademiezeiten oder vielleicht gerade danach in den Achtzigern. Ich habe mir Fotoalben geliehen oder auch mal welche aus dem Container gezogen. Ich habe zunächst versucht, Reproduktionen von Ausschnitten dieser Fotos zu machen. Wir hatten eine Farb-Dunkelkammer in der Becher-Klasse, und wenn ich meine Ergebnisse darin professioneller vergrößere und die Farbstiche rauskriege, dachte ich, dann könnte das ja vielleicht schon ein Schritt sein. Es funktionierte so aber leider noch nicht wirklich. Ich habe früh eine Affinität zu Computern gehabt und Programmiersprachen gelernt. Aber es war lange kaum vorstellbar, dass man mit einem Rechner Bilder bearbeiten könnte.
Ab wann war es überhaupt möglich, Fotografien digital zu bearbeiten?
Ab Anfang der 90er. Davor gab es zwar bereits superteure Maschinen, mit denen man schon irgendwie Bilder machen konnte, und auch die erste Digitalkamera. Aber das war alles experimentell und für mich als anwendbares Tool nie eine Option.
Es gab noch keine Scanner, um analoge Bilder zu digitalisieren?
Doch, es gab schon Scanner. Ich hatte einen Bekannten, dem ein Druckvorstufenbetrieb gehörte. Der hat mir auf einem sündhaft teurem Trommelscanner meine ersten fünf Scans machen lassen. Sie benötigten so viel Speicherplatz, dass jedes einzelne Bild auf acht Disketten aufgeteilt werden musste. Dazu wurde jede Datei zunächst geringfügig durch ein Kompressionsprogramm verkleinert und in passende Teile zerlegt, damit die Bilddaten überhaupt auf Disketten transportiert werden konnten.
Das kann man sich heute nur noch schwer vorstellen.
Es war eine Übergangszeit. Ich hatte wie gesagt schon früh eine Affinität zu Computern und Programmierung und fand es auch interessant, ein bisschen in dieser Szene unterwegs zu sein. Dort wurden untereinander Programme ausgetauscht – warten auf den nächsten Diskettenwechsel, und sprechen zu zweit vorm Monitor. Kein Internet, nur Mailboxen und „Datenfernübertragung“, die zu langsam für größere Dateien war. Aber es gab damals bereits die ersten Bildbearbeitungsprogramme. Ich kam über das „Tauschen“ so ganz selbstverständlich in Wohnungen, die ich sonst nie hätte betreten können. Es war dann einfach danach zu fragen, ob ich etwas in der Wohnung fotografieren kann. Ich habe nicht im Studio Motive erfunden, sondern die Motive irgendwo gefunden.
Wann hast Du zum ersten Mal daran gedacht, einen Bilderspeicher aufzubauen?
Mit dem Schritt, digitalisierte Bilder zu bekommen kam sehr schnell der Wunsch danach, einen eigenen Scanner zu besitzen, um die gefundenen Bilder aus den 80er und 90er Jahren zu digitalisieren und am Rechner zu manipulieren. Problemstellen konnte ich jetzt einfach herausnehmen.
Problemstellen im Sinn von Bildbereichen, die nichts taugen.
Ja und nein: Problemstellen, die das Potential des Bildes überlagern oder verdecken. Ich habe eigentlich immer vom Bild her gearbeitet. Ähnlich wie ein Bildhauer vor einem Stück Material steht und weiß, dass darin irgendwo seine Plastik steckt, musste ich erst alles Unnötige entfernen, damit ich meine Arbeit sehen konnte. Bald hatte ich eine wachsende Sammlung an Material. Und da ich mir zu der Zeit mit der Programmierung von Datenbanken Geld verdient habe, war es für mich naheliegend, dass ich die gescannten und überarbeiteten Fotos in eine Datenbank aufnehme, um sie zum Beispiel zu kategorisieren. Als die Sammlung deutlich angewachsen war, erschien mir das Material kulturhistorisch so interessant, dass ich darüber nachdachte, es zu veröffentlichen. In Grenoble hatte ich im Herbst 2004 eine Ausstellung, deren Architektur ich selbst gestalten konnte. Dafür habe ich Wände bauen lassen, die eine einzige, lange Flucht erzeugten. Darin hingen einseitig ungefähr 145 Bilder, deren Abfolge und Auswahl ich mithilfe meiner Datenbank zusammengestellt hatte. An der durchgehenden Wand nahmen sie den Charakter einer langen Erzählung an. Leise beginnend mit Naturdarstellungen, mal ein erstes Tier, dann Architektur, Menschen, Urbanes.
Wie wurde das aufgenommen?
Schon beim Aufbau erzeugte diese „Erzählung“ an der Wand eine starke persönliche Nähe bei den Beteiligten vor Ort. Später setzte sich das beim Publikum fort, weil die Besucher merkten, dass das, was sie in der Ausstellung sahen, sehr viel mit Omas Fotoalbum, dem der Eltern oder des eigenen zu tun hatte. Ich dachte, dass diese Nähe meiner „Skizzen“ auch helfen könnte, sich meinen anderen Arbeiten, den Tableaus, zu nähern, die alle eigentlich auf demselben Prinzip basieren, nur deutlich weiter ausgearbeitet sind. Mit dieser Zufriedenheit und der guten Resonanz beim Publikum kam bei mir wie so oft im Nachhinein auch eine Skepsis auf. Ich befürchtete, zum Romancier zu werden. Und der wollte ich doch nicht sein. Die lange, erzählerische Wand in Grenoble war linear – die Entsprechung zu ihrer Herstellung aus einer relationalen Datenbank also komplett unsichtbar geblieben. Deshalb begann ich daran zu arbeiten, das Besondere einer Datenbank sichtbar zu machen, die nicht linearen Verhältnisse.
Ein Romancier erzählt Geschichten, die Figuren wiederfahren, mit denen man sich als Leser irgendwie identifizieren kann. Das scheint tatsächlich nicht zu deinem Ansatz zu passen.
Meine Ausgangsfrage war: Wie kann ich eine Form dafür finden, dass jedes Bild gleichwertig ist? Denn das Meiste in der Welt passiert immer gleichzeitig. Man verpasst alles, bis auf das, womit man gerade konfrontiert wird. Würde es gehen, diesen Umstand in eine komplett analoge Form zu übertragen? Acht Jahre zuvor hatte ich eine Einzelausstellung im Kölnischen Kunstverein, damals war dort Udo Kittelmann Direktor. Mithilfe eines von mir programmierten Werkverzeichnisses im Ausstellungsraum konnte man alle Bilder, die ich bis 1996 gemacht hatte, unter anderem auch kategorisiert per Touchpad an einem Monitor in der Mitte des Raumes aufrufen. Das Essentielle dabei ist, dass ein Bild in einer solchen relationellen Datenbank eben nicht nur einmal auftaucht, sondern mehrmals unter den verschiedenen Begriffen, die damit verknüpft wurden. Heute nichts Ungewöhnliches, damals für die meisten Menschen kaum nachvollziehbar.
Das Foto wird verschlagwortet.
Ja, es wird verschlagwortet. Was umgehend vorführt, wie wirkmächtig eigentlich Sprache und Begrifflichkeit beim Blicken auf Bilder sind. Da kommen wir wieder zum Kontext. Der Apfel, um auf das Beispiel von vorhin zurückzukommen, ist hier in einem Ausstellungsraum etwas ganz anderes als auf dem Markt. Wenn man das Visuelle erlebbar macht, wird es natürlich total verrückt, weil es sich nicht nur ohne Sprache vermitteln lässt, sondern auch zu eigener Erfahrung wird.
Weil man es unmittelbar und praktisch selbst erfährt anstatt nur davon zu lesen.
Genau. Eben habe ich dasselbe Bild unter dem Schlagwort „Beton“ gesehen, und jetzt sehe ich es erneut, aber einem anderen Begriff zugeordnet. Und nun ich sehe etwas ganz anderes auf dem Bild. Bei „Speicher II“ ist es so, dass ungefähr die Hälfte der Schlagwort-Kategorien referentiell sind. Das heißt, es geht eher um das, was vor der Kamera zu sehen war. Die andere Hälfte sind eher Kategorien, die sich auf das Bild selbst beziehen.
Funktionieren die großen Bilddatenbanken von heute genauso?
Das kommt auf die Datenbank an. Es gibt Szenarien, in denen die Verwendung einer relationalen Datenbank schwierig ist, weil bestimmte Elemente zu unterschiedlich sind, um sie klar zuweisen zu können. Wo begegnen wir heute hauptsächlich Datenbanken? Auf dem Smartphone und im Internet natürlich. Jedes Shopping-System basiert immer noch auf relationalen Datenbanken, und auf dem Sammeln und Auswerten von dem, was wir im Netz an Spuren hinterlassen.
Was genau bedeutet in diesem Zusammenhang eigentlich relational?
Dass es mehr als eine definierte Beziehung gibt: am Beispiel der Speicher etwa kann jedes Bild in jeder Kategorie vorkommen. Und die Anzahl der Bilder und auch die Anzahl der Kategorien sind prinzipiell unendlich. Im Fall dieses Speichers ist sie das natürlich nicht. Die 512 Bilder darin haben alle eine eindeutige Nummer, und die Kategorien in diesem Fall von 1 bis 56. Die Frage ist, wie man beides zusammenbringt? Eine einfache, direkte Zuweisung wäre es wenn man sagte, dieses oder jenes Bild gehört zum Beispiel in die Kategorie 17. Aber eigentlich gehört es ja auch noch in die Kategorie 7. Ich habe eine Tabelle angelegt, in der einfach nur die Bild-Nummer und Kategorie-Nummer eingetragen werden. Bild 1 gehört darin zur Kategorie 17 und gleichzeitig zur Kategorie 35, und auch zu Kategorie 56. Man kann der Datenbank also die Anweisung geben: „Zeig mir alle Bilder aus der Kategorie 17“. Man kann aber auch von den einzelnen Bildern ausgehen und sich alle Kategorien anzeigen lassen, in die das Bild einsortiert wurde. Das ist die simpelste Form von der Relationalität in einer Datenbank.
Die Datenbank bietet also die Möglichkeit, mit vielen Bildern organisatorisch umzugehen. Nun hat die Bilderflut des digitalen Zeitalters aber noch einmal eine ganz andere Dimension als zu Beginn deiner Arbeit mit den „Speichern“.
Wie ich eben sagte: die Zahl der Bilder ist unendlich, die Zahl der Kategorien aber auch. Strukturell besteht da kein Unterschied, der Unterschied besteht in der Kapazität.
Handelt es sich bei „Speicher“ um eine Strategie, die Unabbildbarkeit der Welt zu bewältigen? Die Realität ist ja, wie wir eben mit Bezug auf das Fotografieren und Zeichnen festgestellt haben, nicht erschöpfbar. Und mit Unendlichkeit kommen wir Menschen nicht gut zurecht.
Meine künstlerische Intervention ist es zu sagen: ich habe 512 Bilder und 56 Kategorien, nicht mehr. Das ist die Setzung. Und jede dieser Kategorien ist eine Setzung, eine Entscheidung. Jedes Bild ist eine Entscheidung. Ich finde es wichtig, dass es nicht irgendein beliebiges Bild ist. Bei der hier ausgestellten Arbeit „Speicher II“ geht es darum, wie dokumentarische Fotografie heute aussehen könnte, oder besser: Fotografie im dokumentarischen Stil. Es ist eine Art Versuchsanordnung. Jenseits von linearen Strukturen.
Für „Speicher II“ hast du dich entschieden, eine geografische Region in den Blick zu nehmen. Alle ursprünglich 5000 Fotografien stammen aus dem Ruhrgebiet. Hast du diesen Bilderbestand durchforstet und geschaut, ob welche davon in deine Kategorien passen?
Nein, es ist genau andersherum. Ich durchforste die Bilder, aber erst dabei komme ich auf Begriffe, die mir vielleicht weiterhelfen. Nehmen wir an, du schreibst einen Artikel und möchtest eine Illustration dazu haben. Dann kannst du zu deinem Bildredakteur sagen, such mir doch mal etwas zum Thema „Düsseldorf, Hochwasser, 80er Jahre“.
Das wäre noch relativ einfach. Schwierig wird es, wenn es kein konkretes Ereignis gibt, von dem ein direktes Bild existiert, sondern ein Thema illustriert werden soll.
Super, dass du das sagst, denn das ist genau das Problem. Die Fotografie wird in diesem Zusammenhang nur illustrativ eingesetzt. In der großen Zeit des Bildjournalismus wurden Menschen beauftragt in Bildstrecken eigenständig zu einem Thema zu arbeiten. Also in diesem Fall etwa zum Hochwasser am Rhein. Der Untergang dieser Form von journalistischer Fotografie hat damit angefangen, dass die Bilder in relationalen Datenbanken verschlagwortet wurden. Ein sprachbasiertes Referenzsystem hat eigenständige Bilder zu Illustrationen von Begriffen gemacht. Fotografinnen und Fotografen kennen sich heute relativ gut in dieser Verschlagwortung aus und produzieren Bilder, die in möglichst vielen Kategorien vorkommen, damit sie möglichst oft verkauft werden.
Im „Speicher“, der nicht vom Begriff, sondern vom Bild aus geht, soll eben auch genau der Shift der Verwendung von Fotografie gezeigt werden. Mein Anspruch beim Speicher ist, dass jedes Bild als Einzelbild funktionieren muss, das schützt vor eindimensionaler Vereinnahmung durch Sprache.
Das Besondere an den „Speichern“ ist, dass sie immer wieder neue Hängungen erlauben. Dabei ist die Kombination der Bilder aber keinesfalls zufällig, richtig?
Es gibt maximal 70 Bilder in einer Kategorie. Aber nur weil Bilder in einer Kategorie begrifflich zusammen gehören, heißt das nicht, dass sie nebeneinander gut aussehen. Deshalb habe ich ein System entwickelt, in dem ich bewerte, wie gut ein Bild zum anderen passt. Die Skala reicht von 1 bis 5. Egal in welcher Kategorie sie auftauchen, lässt sich so ablesen, welches Bild man gut links oder rechts von einem anderen platzieren kann. Man kommt von einem Bild zum nächsten, und von diesem wieder zu einem weiteren.
Die vielen möglichen Anordnungen sind also sozusagen vorkuratiert.
Es ist ein System, das einen leichten Einstieg ermöglicht, mit dem man aber dennoch zu plausiblen und oft spannenden Ergebnissen der Bildkombinationen kommt. Wenn wir aber eines der Bilder – hier an der Wand aus der Kategorie „Rituale“ – abhängen und durch ein anderes ersetzen, dann wird sich sehr wahrscheinlich eine komplett andere „Aussage“ der Bildreihe ergeben.
Lieber Jörg Sasse, vielen Dank für das Gespräch!
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Das Gespräch führte Boris Pofalla.
Siehe auch:
Website von Jörg Sasse: c42.de
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Mit freundlicher Unterstützung:
Kulturamt der Landeshauptstadt Düsseldorf