07/02/2025
Online-Release
Interview
Jeff Wall im Gespräch
Lieber Jeff, in der ersten Hälfte diesen Jahres zeigte die Fondation Beyeler in Basel eine Retrospektive Deines Werkes. Im November wird es eine umfassende Ausstellung bei White Cube Bermondsey in London geben, die zugleich dreißig Jahre Zusammenarbeit mit der Galerie White Cube markiert. Unterscheiden sich diese Ausstellungen in ihrer Herangehensweise?
Sie sind sich ähnlich, denn viele der Bilder, die in Basel zu sehen waren, werden auch in London sein, ergänzt um einige neuere Arbeiten, die ich noch nicht fertiggestellt hatte. Die Ausstellung wandert im nächsten Frühjahr ins Museum für Kunst, Architektur und Technologie (MAAT) in Lissabon, im Herbst in die Galleria d'Arte d'Italia in Turin und anschließend nach Toronto ins Museum of Contemporary Art.
Wir führen dieses Gespräch auf Einladung des DFI e.V., einer von Künstlern geleiteten Initiative, deren Ziel es ist, den Aufbau eines Deutschen Fotoinstitutes in Düsseldorf zu unterstützen. Auch wenn Du in Vancouver und Los Angeles lebst, sind viele Deiner Arbeiten über eine längere Zeit in Düsseldorf produziert worden, richtig?
Im Jahr 2007 beschloss ich, Farbfotografien, die keine Diapositive waren, bei Foto Grieger in Düsseldorf produzieren zu lassen. Zu dieser Zeit waren C-Prints, die mit der Bildvorderseite auf Acrylglas kaschiert wurden, die beste Alternative. Im Laufe der Jahre hatte ich viele dieser Werke von Künstlern wie Andreas Gursky, Thomas Demand und Thomas Struth gesehen. Ich war mir unsicher, ob ich es ihnen gleichtun sollte, weil ich wusste, dass solche Farbabzüge oder C-Prints sehr vergänglich sind, dennoch wollte ich diese Veränderung in meinem Repertoire ohne Verzögerung umsetzen. Um 2013 hatte ich dann einen Weg gefunden, Inkjet-Prints in meinem Atelier herzustellen, zu kaschieren und zu rahmen. Das ist es, was ich seitdem tue.
Großformatige, hintergrundbeleuchtete Diapositive verwenden eine Technologie, die ursprünglich in der Werbung verbreitet war. Du hast ab Ende der 1970er Jahre auf dieses Verfahren zurückgegriffen, es wird bis heute oft mit Deiner Arbeit in Verbindung gebracht. Warum hast Du das Dia aufgegeben?
Ich habe es nicht aufgegeben, sondern damit auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, könnte aber jederzeit wieder damit anfangen. Ich produziere in meinem Atelier immer noch Dias als Teil eines Langzeitprojekts, um „Reserveabzüge“ oder „Sicherungsabzüge“ für alle meine hintergrundbeleuchteten Arbeiten herzustellen. Daran arbeite ich schon seit fast zwanzig Jahren und werde dieses Projekt voraussichtlich Anfang nächsten Jahres abschließen.
Welches Problem bestand mit den C-Prints von Grieger?
Ich war wie gesagt nie sehr zufrieden mit diesen Farbabzügen wegen der Frage der Haltbarkeit. Nach ein paar Jahren ziemlich intensiver Forschung fand ich schließlich einen Weg, Tintenstrahldrucke so aufzuziehen und zu präsentieren wie ich es jetzt tue. Die Bilder sehen nun so aus wie es mir wünsche und ich glaube, dass die Abschlussbehandlung eine maximale Langlebigkeit garantiert. Dieser Prozess hat viel Zeit in Anspruch genommen, denn wie Du wahrscheinlich aus Gesprächen mit anderen Fotografen, die in größerem Maßstab gearbeitet haben, weißt, ist es nicht so schwer, ein größeres Foto herzustellen, aber sehr schwierig, eines zu montieren und zu rahmen.
Die Technologie des Tintenstrahldrucks muss sich seitdem stark verbessert haben. Hat die Fotoindustrie in den letzten Jahren mehr getan, um den Fotokünstlern das Leben zu erleichtern?
Ich bin ziemlich sicher, dass sich niemand wirklich darum schert, was die Künstler brauchen, sondern nur darum, was die Industrie braucht. Aber zum Glück bewegt sich die Fotoindustrie in eine Richtung, die allen, die mit Farbe arbeiten hilft.
Inwiefern?
Ich glaube, jeder, der mit Farbe arbeitet, weiß, wie schwierig es ist, erstens eine praktikable Methode für den Abzug des Negativs und zweitens einen Weg für die Konservierung des fotografischen Abzugs zu finden. Das ist nicht neu, sondern seit den 1930er Jahren ständig ein Thema. Die Konservierung von Farbfotografien war also schon immer ein Problem, und man könnte meinen, dass sich die Angelegenheit mit den Inkjet-Prints verändert, die eine bessere Stabilität aufweisen als alles bisher Dagewesene.
Die Faszination des transparenten Bildes als solchem hat also nicht nachgelassen?
Nein. In letzter Zeit war ich erstaunt über die zunehmende Qualitätsverbesserung bei diesen neuen kommerziellen Produkten, bei denen es sich im Wesentlichen um Vinylplatten mit darauf aufgebrachtem, transparentem Tintenstrahldruck handelt. Früher waren sie ziemlich schlecht, aber in den letzten fünf Jahren sind diese transparenten Drucke extrem gut geworden. Wenn ich heute ein junger Künstler wäre, der hintergrundbeleuchtete Bilder machen möchte, dann würde ich mich für diese Technologie entscheiden, natürlich in Kombination mit LED-Beleuchtung, die dem Druck viel weniger schadet.
Wir haben bereits über die Haltbarkeit von Fotografien gesprochen. Eine deiner größten Leuchtkästenarbeiten ist „Restoration“. Mit einer Größe von 120 x 490 cm zeigt das Bild die Restaurierung des „Bourbaki-Panoramas“ in Luzern in der Schweiz. Dabei handelt es sich um ein kreisförmiges Panoramagemälde, das 1881 von Édouard Castres geschaffen wurde und 112 x 10 Meter misst.
Nicht alle Panoramen sind gute Gemälde, aber dieses ist es. Das ist einer der Gründe, warum ich diese Arbeit machen wollte – weil das Bourbaki-Panorama ein so gutes Gemälde ist und ich fand, dass es eine Hommage verdient.
Jeff Wall, Restoration, 1993
Transparency in light box, 119 × 489,6 cm
Courtesy of the artist
Angesichts dessen, was Du vorhin über die Haltbarkeit von Abzügen gesagt hast, könnte man „Restoration“ ebenso als Kommentar zur Alterungsbeständigkeit von Kunstwerken lesen. Wer sind die Frauen, die wir auf dem Bild sehen, und was genau tun sie?
Sie suchen nach problematischen Stellen in der Leinwand, nach Rissen oder Bruchstellen, und bringen kleine Stücke Tissuepapier an, wobei sie einen sehr sanften Klebstoff verwenden, der der Bildoberfläche nicht schadet. Weil das Bild so groß ist, markieren sie solche Stellen, bevor sie mit der Restaurierung beginnen, damit sie genau wissen, wo etwas getan werden muss. Die Frauen, die man auf dem Bild sieht sind Restauratorinnen; ich habe mit ihnen zusammengearbeitet, weil ich auf ihr Fachwissen angewiesen war und weil ihre Anwesenheit im Bild mir essentiell erschien. Da zum Zeitpunkt der Entstehung der Arbeit keine Restaurierung des Bildes stattfand, konnten wir nur den Anfang des Prozesses darstellen.
Das Bourbaki-Panorama zeigt die Internierung von 87.000 französischen Soldaten, die am Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1871 in der neutralen Schweiz Zuflucht suchten. Nur drei Jahre nach der Entstehung des Fotos wurde das Panorama umfassend restauriert, von 1996 bis 2003. Deine Arbeit nimmt dieses Ereignis vorweg.
Als ich das Bourbaki-Panorama zum ersten Mal sah, gab es bereits Diskussionen über seinen Zustand. Das Gebäude, in dem es untergebracht ist, war damals sehr schön, eine sehr alte Rotunde mitten in der Stadt Luzern. Ich weiß, dass sie in der Zwischenzeit aufwendig restauriert wurde, aber ich mochte es mehr, als es noch ein heruntergekommenes, altmodisches Gebäude war.
Die Restaurierung von Fotografien gilt als in mancher Hinsicht schwieriger als die von Gemälden. Beschädigte Abzüge werden deshalb oft durch neue ersetzt, was Fragen der Authentizität aufwirft. Manche Künstler bestehen darauf, den beschädigten Abzug anschließend zu vernichten. Tust Du das auch?
Ich habe im Laufe der Jahre eine Reihe von Bildern ausgetauscht, vor allem verblasste Dias, aber ich habe nicht verlangt, dass der bereits existierende Abzug zerstört wird. Es ist mir eigentlich egal, ob der alte Abzug erhalten bleibt, er darf einfach nicht mehr ausgestellt werden. Ich glaube nicht, dass das wirklich wichtig ist, vor allem dann nicht in einem Museum. Man wird den verblassen Abzug irgendwo in einem Archiv aufbewahren und er wird dort einfach herumliegen und vielleicht von jemandem studiert werden, der sich dafür interessiert. Das neue Bild das ist, welches die Leute sehen.
Schäden an Abzügen entstehen in der Regel durch chemische Reaktionen infolge von Lichteinwirkung oder durch physikalische Zersetzung der Emulsionsschicht. Ist es überhaupt möglich, ein Foto so lange zu erhalten wie ein Gemälde oder eine Skulptur?
Auf diese Frage haben wir keine vollständige Antwort. Der Alterungsprozess von Fotografien ist so unvorhersehbar. Ich mache mir keine großen Sorgen um meine Schwarz-Weiß-Fotos, weil sie sehr stabil sind und sich wahrscheinlich nicht groß verändern werden. Ich habe kürzlich einige gesehen, die dreißig Jahre alt sind, und sie sehen aus wie neu. Es freut mich sehr das zu sehen.
Worauf kommt es bei der Konservierung von Fotografien am meisten an?
Man darf sie nicht zu viel Licht aussetzen. Bei einem kleinen Foto im traditionellen Format ist das noch recht einfach gewesen. Man kann die Bilder leicht im Dunkeln lagern und für eine gewisse Zeit herausnehmen. Schwieriger ist die Situation bei den großformatigen Fotografien, die Künstler ab den 1980er Jahren geschaffen haben. Die Menschen, die diese Bilder besitzen, neigten manchmal dazu, sie als Gemälde zu betrachten und sozusagen zu vergessen, dass es sich um Fotografien handelt. So wurden sie über längere Zeit unter unvorteilhaften Lichtverhältnissen aufbewahrt. Dieses Problem tritt heute, also dreißig bis vierzig Jahre später, zutage. Das ist ungefähr die Lebensdauer vieler Farbabzüge.
Wie gehst Du mit diesem Problem um?
Vor zwanzig Jahren habe ich mir wie gesagt vorgenommen, von allen Diapositiven „Reserveabzüge“ zu machen, so dass jeder Besitzer eines solchen Bildes ein weiteres „in Reserve“ hat. Ich stelle dafür im Wesentlichen die Produktionskosten in Rechnung. Ich bewahre die Abzüge für sie auf und versichere sie, wenn sie selbst keine geeigneten Lagermöglichkeiten haben. Die meisten Eigentümer haben sich dafür entschieden, ihre Abzüge in meinem Atelier aufzubewahren, wo ich gute Bedingungen habe und auch die großen Abzüge unterbringen kann.
Ein komplettes Backup also.
Ja. Ich rechne mit einer unterschiedlichen Lebensdauer der Bilder, je nachdem, wie oft sie ausgestellt werden. Ich habe Abzüge von mir gesehen, die in den frühen 1980er Jahren gemacht wurden und die immer noch gut sind, weil ihre Besitzer sie nicht zu häufig dem Tageslicht ausgesetzt und sie sachgemäß aufbewahrt haben. Je weniger Licht man Bilder aussetzt, desto länger ist ihre Lebensdauer. Ein Farbfoto könnte Jahrhunderte überdauern, wenn es richtig behandelt wird.
Installation of Jeff Wall, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, 2024
Foto: Felix Forrer
Und doch werden Menschen diese Bilder ansehen wollen, vor allem dann, wenn sie sich in einer öffentlichen Sammlung befinden. Wie kann man dieses Dilemma überwinden?
Ich glaube, dass die Zukunft der Fotografie in Bezug auf ihre Langlebigkeit von den sozialen Beziehungen zwischen den Menschen, die die Fotografien besitzen, und dem Nachlass des Künstlers abhängt. Es hängt davon ab, wie der Künstler sein Erbe organisiert hat und welche Ausbildung, Prioritäten, Werte und Fähigkeiten diejenigen haben, die dann für sein Werk verantwortlich sind. Technisch gesehen können Konservierung, Restaurierung oder Reproduktion heute sehr effizient sein. Es ist der menschliche Faktor…
Denkst Du, dass alle Fotograf*innen versuchen werden, ihre Werke auf professionelle Weise zu erhalten?
Wahrscheinlich hegen die meisten zumindest die Hoffnung, dass ihre Arbeit die Zeit überdauert und auch in Zukunft von Interesse ist. Für sie wird die Sache immer kompliziert sein. denn es hängt alles davon ab, wer nach ihnen kommt und wie groß das Interesse an ihrer Arbeit in Zukunft sein wird. Doch es gibt Menschen, die ihre Arbeit sehr ernst nehmen, denen es aber nicht so wichtig ist, wie lange sie Bestand hat, weil„nichts ewig hält“. Dieser Gedanke hat eine gewisse Schönheit. Die Tatsache, dass ein Kunstwerk nicht für immer besteht, hat eine berührende Qualität, die dessen Reiz und Bedeutung vielleicht sogar erhöht. Es gibt also wahrscheinlich nicht nur eine Weise, die Sache zu betrachten.
Was ist Deine persönliche Einstellung zur Beständigkeit Deiner Kunst?
Ich bin an der Langlebigkeit meiner Bilder interessiert schon weil ich so viel von Kunst gelernt habe, die Hunderte von Jahren alt ist. Eine Haupteigenschaft der Künste besteht darin, etwas über die Zeit hinweg bewahren und ausstrahlen zu können.
In einem Gespräch mit Martin Schwander für den Katalog zur Ausstellung in der Fondation Beyeler sagst Du, die Fotografie solle nicht von der bedingungslosen künstlerischen Freiheit ausgeschlossen werden, die jeder anderen Kunstform, vom Ballett bis zum Roman, zugestanden werde. Das würde man kaum bestreiten wollen. Aber künstlerische Traditionen und auch die Erwartungen des Publikums prägen Kunstformen im Laufe der Zeit. Sind der Fotografie Deiner Meinung nach gewisse Grenzen gesetzt?
Begrenzt was ihr Überleben angeht oder begrenzt in ihrer Relevanz?
Begrenzt in dem Sinne, dass von der Fotografie nicht alles erwartet werden kann, was die Malerei kann.
Ich glaube nicht, dass die Fotografie alles können muss, was die Malerei kann. Ich habe von der Malerei viel über Kunst gelernt, einmal, weil ich sie selbst praktiziert habe, aber auch, weil ich Malerei immer geschätzt habe. Mir wurde klar, dass einige Gesichtspunkte von dem, was die Malerei über Jahrhunderte hinweg erreicht hat, nicht ihr exklusiver Besitz sind. Alle bildnerischen Kriterien, wie Komposition und ähnliche Elemente, sind sämtlichen bildenden Künsten gemeinsam, sei es Zeichnung, Malerei, Lithografie oder Fotografie. Wir tun dieselben Dinge, deshalb können wir voneinander lernen. Ich kann mir die Verbindungen zwischen den bildenden Künsten als eine Familienbeziehung vorstellen, aber ich habe in keiner Weise jemals geglaubt, dass die Fotografie dasselbe tun sollte, was die Malerei tut. Sie könnte von der Malerei lernen, um ihre eigenen Grenzen zu erweitern. Ich denke, das ist in den 1970er und 1980er Jahren geschehen, als die Leute zu erkennen begannen, dass Fotografie nicht durch eine zuvor etablierte Orthodoxie in ihren Möglichkeiten eingeschränkt werden sollte – eine alte Ordnung, welche auf Fotojournalismus, kleinen Abzügen und anderen Kriterien fußte, die den traditionellen Kanon definierten.
In der Gegenwart entsteht eine unvorstellbare Menge an digitalen Fotos, aber die Menschen verwenden sie vor allem in einer sozialen Weise. Interessiert Dich das?
Es ist fast unmöglich, sich dem zu entziehen, weil es ein allgegenwärtiges Phänomen ist. Es ist interessant zu sehen, wie Menschen Fotos zum sozialen Austausch nutzen – zum Beispiel, um jemandem die Veranstaltung zu zeigen, auf der sie gerade sind, anstatt sie zu beschreiben. Das funktioniert wirklich gut, was wahrscheinlich dazu führt, dass die Fotografie mehr geschätzt wird als früher. Es würde mich nicht wundern, wenn Menschen heute tatsächlich mehr Zuneigung für die Fotografie empfinden, weil sie sie selbst nutzen und in ihr tägliches Leben integrieren.
Glaubst Du, dass die soziale Verwendung der Fotografie einen Einfluss auf das Medium als Kunstform hat?
Wenn einige der jungen Leute, die die Fotografie als soziales Medium nutzen, älter werden, werden sie Fotografie vielleicht auf eine umfassendere Art und Weise praktizieren wollen, und ihre Sensibilität wird eine sein, die es vorher nicht gab. Es ist immer die nächste Generation, die uns überrascht.
Vielleicht werden sie besser darin sein, Bilder wahrzunehmen und zu lesen so wie Leute, die viel mit Texten zu tun haben Geschriebenes besser interpretieren können.
Wahrscheinlich sind Menschen heute besser im Betrachten von Fotografien als vor dreißig Jahren, schon weil die meisten von uns früher nicht ständig einen Fotoapparat bei sich trugen. Der größte Teil dieses Bilderstroms hat nichts künstlerisch Interessantes an sich, aber ich nehme an, dass er irgendwann zu etwas führen wird. Ich habe das Gefühl, dass die Art von Bildern, die ich oder Andreas Gursky oder einigen anderen, die in den 1980er Jahren angefangen machen, über eine Stabilität verfügen, die sie von älterer Kunst beziehen, egal wie modern sie in anderer Hinsicht erscheinen mögen. Das könnte in Zukunft fehlen. Dieser Mangel könnte ein zentrales Problem werden.
Fotografie als soziales Instrument ist in der Regel subjektiv. Wenn ich mir Ihre Arbeit ansehe, habe ich das Gefühl, dass es so etwas wie einen Ich-Erzähler in einem Roman gibt, der nicht völlig involviert ist, aber auch nicht völlig losgelöst von den Ereignissen. Manchmal habe ich das Gefühl: "Ich sollte nicht hier sein, um das zu sehen.
Ich weiß nicht, ob ich das so schon mal gehört habe. Meinst Du damit, dass das Bild seinen Standpunkt nicht preisgibt?
Nicht ganz. In einem Roman erfährt man alles über die Ereignisse, von denen der Erzähler berichtet. Er oder sie mag unbeteiligt erscheinen, aber es gibt normalerweise subtile - oder weniger subtile - Hinweise darauf, was der Erzähler über die Geschichte denkt, die er erzählt. Dasselbe spüre ich in Deinen großformatigen Bildern.
Der Vergleich mit dem Roman ist gut, weil ich immer ein Romanleser gewesen bin. Das Problem des Erzählers scheint mir das erste Problem zu sei, das man als Romanautor lösen muss, und wahrscheinlich habe ich etwas von diesem Ansatz übernommen. Wenn ich auf Dinge reagiere, dann möchte ich nicht zu viel darüber wissen oder dafür empfinden. Ich ziehe es vor, keinen starken Standpunkt dazu einzunehmen. Vielleicht sprichst Du darauf an.
Du meinst, dass ein eindeutiger Standpunkt die Möglichkeiten des Bildes einschränken würde?
Damit würde man anfangen, nach dem Sinn zu suchen, und dafür ist es im Schaffensprozess noch zu früh. Es ist besser, die Bedeutung zu ignorieren und seine Aufmerksamkeit auf die Entstehung des Bildes zu richten – auf die Komposition, die Art und Weise, wie es umgesetzt wird, auf alles Formale und Technische. Was dabei herauskommt, ist ein Bild, das hoffentlich nicht kalt und distanziert ist, sondern leicht unbeteiligt. Diese Distanziertheit kann einen sehr offenen Raum erschaffen, auf den der Betrachter reagieren kann.
Der Künstler präsentiert dem Publikum etwas, aber der Wahrnehmungsprozess findet zwischen dem Kunstwerk und dem Betrachter statt.
Ich habe schon oft gesagt, dass der Künstler während der Herstellung eines Bildes dessen Narrativ auslöscht – ein Narrativ, das der Betrachter anschließend neu schreibt. Ich denke, es gibt eine romanhafte Analogie zu der Erfahrung, ein Bild zu betrachten, es gibt eine tiefgehende Verbindung zwischen Literatur und bildender Kunst. Sie war von Anfang an da. Ich habe das Gefühl, dass ein Teil meiner Arbeit darin besteht, die Ausgangspunkte meiner Bilder zu formulieren. Diese Ausgangspunkte zu „schreiben“ bedeutet auch, für mich selbst zu artikulieren, was mich zu diesem Ausgangspunkt geführt hat.
In Deiner Arbeit „The Storyteller“ (1986) ist die Titelfigur weit vom Zentrum des Bildes entfernt platziert. Sie hockt buchstäblich am Rande des Fotos, auf einem Stück Niemandsland in der Nähe einer Autobahnauffahrt. In der modernen Literatur kommen oft Menschen zu Wort, die normalerweise nicht gehört werden. „The Storyteller“, der das literarische Moment ja schon im Namen trägt, hat eine ähnliche Wirkung auf mich. Seine sorgfältige Komposition und der große Maßstab lenken die Aufmerksamkeit auf jemanden, der eher am Rande steht.
Ich freue mich, dass Du das so siehst. Alle diese Überlegungen sind für meine Arbeit von grundlegender Bedeutung. Das ist einer der Gründe, warum es mir sehr schwer fallen kann, mich auf ein Motiv und die Arbeit daran einzulassen. Ich würde gern spontan sein, so dass ich, wenn mir etwas auffällt, gleich loslegen kann. Manchmal war das auch so. Den Mann mit der Milchtüte zum Beispiel habe ich wirklich gesehen. Nicht ganz so, wie auf dem Bild [„Milk“, 1984], aber es war nahe dran. Als ich diesen Mann sah, wusste ich sofort, dass es ein Bild war, das ich machen konnte. Ich musste das nicht groß analysieren, ich konnte es sehen. In anderen Fällen ist es nicht so klar. „The Storyteller“ begann mit dem Ort, an dem das Bild aufgenommen wurde und nicht mit den Protagonisten. Ich kannte diesen Ort gut. Ich mochte die ansprechende Form der Unterseite jener Überführung und die Steigung des Geländes darunter. Es ist ein sehr schön gestaltetes Setting, auch wenn es, wie Du sagst, kein an sich bedeutsamer Ort ist.
Jeff Wall, Milk, 1984
Transparency in lightbox, 187 × 229 cm
Courtesy of the artist
Die sechs Protagonisten von „The Storyteller“ rasten an diesem Hang neben einer Autobahn, die knapp außerhalb des Bildes liegt. Hast Du dort eine ähnliche Szene beobachtet, so wie bei „Milk“?
Ich hatte zu der Zeit eine ähnliche Zusammenkunft von Indigenen in der Nähe gesehen, und mir wurde klar, dass sie im Verbund mit dem von mir bevorzugten Ort ein Bild möglich machen würden. Es liegt eine soziale Wahrheit darin, denn die Menschen versammeln sich dort, oder haben sich dort versammelt. Ich weiß um die Marginalität der Menschen, aber ich habe nicht mehr Interesse an „marginalen“ Menschen als an „wichtigen“ Menschen.
Obwohl das Bild arrangiert ist, fängt es die Realität ein.
Ich glaube, es erschafft ein Bild, das auf plausible Weise soziale Tatsachen offenbart. Die Komposition und die damit zusammenhängenden Entscheidungen, die ich getroffen habe, entsprechen der jeweiligen Realität, fügen nichts Irrelevantes hinzu und verdecken nichts Bedeutsames. Das Bild „Man with a rifle (2000), welches einen Mann zeigt, der tatsächlich kein Gewehr trägt, entstand auf ähnliche Weise. Ich hatte jemanden diese Geste auf einer Straße in Vancouver machen sehen.
Ich kehrte sehr bald an den Originalschauplatz zurück, um zu sehen, ob es möglich war, das Ereignis dort zu rekonstruieren, aber die Stelle gefiel mir nicht. Der Ort hatte für mich keinen visuellen Reiz, kein „bildnerisches Eigenleben“ und an sich keinen Bezug zu dem Ereignis, das dort stattgefunden hatte. Also habe ich einen anderen Ort gefunden, der zufällig nicht weit vom ursprünglichen Ort entfernt lag – obwohl er sich durchaus auch weiter weg hätte befinden können. Es spielt keine Rolle, denn das Ereignis leitete sich nicht von irgendeiner Eigenschaft des Ortes ab, an dem es stattgefunden hatte. Das ist ein weiteres Beispiel für das, was ich das „Plausibilitätsprinzip“ bezeichne. Wenn ich Zeuge eines Ereignisses werde, das zwingend mit dem Ort zusammenhing, an dem es stattfand, dann muss ich an diesem Ort arbeiten. Das ist eine Entscheidung, die ich jedes Mal treffen muss. Der Schauplatz, den ich für den Mann mit dem Gewehr gewählt habe, hat das Bild bereichert. Die Bäume zum Beispiel sind wichtig, ebenso wie das große Auto, das in der vorderen rechten Ecke geparkt ist, mit dem riesigen, uns zugewandten Rad und all den Spiegelungen in diesem Rad. Das ist einfach schön und faszinierend anzusehen. Das Bild fängt nicht nur den Mann ohne Gewehr ein, sondern auch viele andere Dinge, die auf irgendeine Art etwas über die Welt aussagen, auch wenn sie nicht unbedingt einen Kommentar zur Handlung darstellen.
Ich bin dann später an diese Stelle zurückgekehrt, aber sie gefiel mir nicht. Ich musste einen anderen Platz finden, der zufällig nicht weit entfernt war – was er aber auch hätte sein können, das spielt keine Rolle. Dieser neue Schauplatz hat das Bild bereichert. Die Bäume zum Beispiel sind wichtig für mich, oder das große Auto, das in der vorderen rechten Bildecke geparkt ist, mit dem riesigen Rad, das uns gegenübersteht, und all die Spiegelungen in der Radkappe. Das ist einfach schön anzusehen. Es gibt nicht nur den Mann mit dem Gewehr auf dem Bild, sondern viele andere Dinge, die in mancher Hinsicht viel über die Welt aussagen, auch wenn sie nicht unbedingt einen Kommentar zur Handlung darstellen.
Du hast den größten Teil Deines Lebens in Vancouver verbracht. Gibt es etwas in der Stadt, das Dir hilft, solche Momente zu finden? Und sähen Deine Arbeiten ähnlich aus, wenn Du in London, New York, Rom oder einer anderen ikonischen Stadt leben würdest?
Anfang der 1970er Jahre ging ich für ein paar Jahre zum Studium nach London. Es war das erste Mal, dass ich Vancouver verließ. Als ich nach Kanada zurückkam, fiel mir der Kontrast zwischen so berühmten Kapitalen wie London, Rom oder Paris und einem wie Vancouver auf, der nicht auf dieselbe Weise einzigartig ist wie diese großen Städte. Es gibt wahrscheinlich Hunderte von Vancouvers auf der ganzen Welt und sicherlich Dutzende in Nordamerika. Die Stadt war mir nicht als einzigartiger Ort wichtig, sondern als nicht-berühmte, nicht-zentrale, nicht-ikonische Stadt, die zugleich eine gewisse Frische ausstrahlte, weil sie noch nicht so oft festgehalten worden war. Mein Ziel war es nicht, Vancouver in irgendeiner Weise aufzuwerten, sondern es als Beispiel für die Gegenwärtigkeit der Welt zu verwenden. Vieles von dem, was ich fotografiert habe, hätte man auch in Düsseldorf oder in jeder anderen Stadt fotografieren können, sogar in Rom, Paris oder London.
In mehr als fünf Jahrzehnten hast Du rund zweihundert Werke geschaffen, die sich mit verschiedenen Aspekten des menschlichen, meist städtischen Lebens befassen. Wenn ich mir Dein kürzlich fertiggestelltes Werkverzeichnis ansehe, scheint mir Dein Schaffen einen fast balzacschen Ansatz zu haben.
Ich habe Balzacs Absicht, mit seiner Comédie Humaine ein enzyklopädisches Porträt seiner Zeit schaffen immer für eine starke Idee gehalten. Balzac ist nicht mein Lieblingsschriftsteller, aber die Vorstellung, dass man als Künstler bis zu einem gewissen Grad „enzyklopädisch“ sein könnte, schien mir eine sehr vielversprechende Haltung zu sein. Dieses Unterfangen wird niemals vollendet sein.
Es gibt immer einen weiteren Roman, ein weiteres Bild.
Ja, und dieses Bild könnte in keiner Weise einem früheren gleichen. Die Bildkunst hat etwas Unendliches an sich. Das ist eine ihrer wirklichen Stärken, und diese teilt sie wahrscheinlich mit dem Roman. Es kann immer jemand anders auftauchen und eine andere Geschichte erzählen, die noch nicht erzählt wurde, schon gar nicht mit dieser Stimme. Deshalb gefällt mir, was Baudelaire in „Der Maler des modernen Lebens“ über die Rolle des Künstlers schrieb. Er hat nichts genauer definiert, sondern festgestellt, dass wir eine uralte poetische Fähigkeit zum Komponieren besitzen, die wir in unsere Gegenwart hineinprojizieren. Daraus entsteht immer wieder Neues.
Danke, Jeff!
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Das Gespräch führte Boris Pofalla.
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