01/05/2025
Online-Release
Artist Talk
Dax: Armin Linke, hinter jedem Ihrer Motive verbirgt sich ein Kontext, der weit über das oberflächlich Sichtbare hinaus geht. Ihre Fotos fungieren als eine Art Zwischenergebnis oder Sichtbarmachung eines, hinter den Fotos liegenden, unsichtbaren Interesses. Inwiefern sind Sie eigentlich noch Fotograf?
Linke: Ich verstehe mich schon primär als Fotograf. Allerdings hat das Fotografieren bei mir längst eine Pragmatik bekommen. Ich gehe systematisch vor – wie ein Koch, der die ganze Zeit damit beschäftigt ist, zu prozessieren, zu fermentieren, Brühen und Saucenbasen zu produzieren. Kurz: Ich folge einem System. So produziere ich unentwegt Bausteine und Module, aus denen ich – oder jemand anderes – etwas Größeres bauen kann: eine Ausstellung zu einem bestimmten Thema oder ein Buch. Diese Bilder, die dann entstehen, werden durch die neuen Kontexte permanent in Frage gestellt, durch verschiedene Strategien, verschiedene Ausstellungen. Das ist dann manchmal fast wie ein kollektives Verfahren, wo eine Ausstellung zu einem Labor wird, in das verschiedene Leute, Mitarbeiter und Mitautorinnen, eingeladen werden, um mit den Bildern Narrative zu entwickeln. Meine zweidimensionalen Fotografien werden durch Gegenüberstellungen im Raum zu einer Art Storyboard, wo es dann nicht mehr um das einzelne Bild geht, sondern um Sequenzen von Bildern. Auf diese Weise werden auch die Produktionskonditionen dieser Bilder noch einmal hinterfragt. Es geht nicht mehr ausschließlich um das Bild selbst, um den Inhalt des Bildes, sondern auch um die mediale Infrastruktur, die zur Bildproduktion gehört und somit auch um Fragen von Autor- bzw. Autorinnenschaft. Die Bilder stammen zwar von mir, die Zusammenstellung und somit das Narrativ aber vielleicht von jemand anderem. Ich spreche von dem Bild als Startpunkt eines Diskurses oder von Gesprächen.
Können Sie das vielleicht am Beispiel Ihrer Ausstellung Image Capital erklären, die in Essen im Museum Folkwang, im Centre Pompidou in Paris und in Bologna in der Fondazione MAST zu sehen war? In dieser Wanderausstellung, die an jedem der drei Ausstellungsorte stets ganz anders konzipiert und präsentiert war, ging es um Fotografie als Speicher- und Informationstechnologie.
Die Ausstellung ist ein gutes Beispiel, weil ich sie nicht alleine, sondern im Dialog mit der Fotohistorikerin Estelle Blaschke konzipiert habe. In Image Capital geht es, wie der Titel bereits andeutet, um Bilder und den Wert der Bilder als aufzeichnendes und reproduzierendes Medium. Im Wesentlichen sind in der Ausstellung Fotografien aus Forschung, Industrie und Überwachung zu sehen, die von Maschinen gemacht wurden, also Bilder aus der Informationstechnologie, die keine eindeutige Autorschaft mehr haben. Sie sind wie blinde Flecken. Zugleich kann man aber gerade durch sie unsere Gesellschaft gut lesen, weil unsere Gesellschaft die Produktionskonditionen dieser Bilder geliefert hat. Diese Bilder, die fast immer über Bilddatenbanken organisiert sind, werden produziert, gelagert, hin- und her verkauft, und das Irre ist: Kaum ein Mensch sieht je diese Bilder, und trotzdem existieren sie. In Holland befindet sich in der Nähe von Delft zum Beispiel die Produktionsstätte von Greenhouse. Das ist eine Firma, die jedes Jahr etwa acht Millionen Orchideen produziert. Eine Orchidee benötigt zwischen einem und anderthalb Jahren, um auszuwachsen. Und während dieses gesamten Zeitraums wird die Blume im Rahmen eines voll automatisierten Prozesses kontinuierlich fotografiert, um ihre Entwicklung zu kontrollieren. Die Fotografie ist hier reines Monitoring-Instrument, das von der Firma Ter Laak Orchids über KI-Prozesse die Produktion dieser Orchideen überwacht und optimiert. Ganz zum Schluss wird die ausgewachsene Orchidee aus unterschiedlichen Perspektiven fotografiert, woraus artifizielle Intelligenz wiederum den Verkaufspreis und den Absatzmarkt der einzelnen Blume bestimmen kann. Es gibt zum Schluss Bilder, 3D-Modelle, die tatsächliche Orchidee und ihren ökonomischen Wert – der freilich in unterschiedlichen Absatzmärkten unterschiedlich hoch ist. In Südeuropa werden bereits leicht geöffnete Orchideen bevorzugt, in Nordeuropa geschlossene. Das wäre dann eine materialistische Lesung von Fotografie, die keinen Autor und keine Autorin mehr hat.
Das erinnert an Joseph Kosuth und seine Arbeit One and Three Chairs. Das Werk besteht aus einem Stuhl, einer Fotografie eines Stuhles und einem Lexikoneintrag der Definition des Begriffs „Stuhl“. Die Arbeit besteht u.a. aus der Setzung, dass es quasi egal ist, wer den Stuhl fotografiert.
Und verweist auf das Arbiträre und Banale sprachlicher Definitionen. Die Orchidee ist ein ästhetisches Objekt, das in der Kunstgeschichte wie auch in der Literatur immer wieder auftaucht. Aber sie ist auch ein Industrieprodukt. Und in der Ausstellung wird dann dieses Foto von der Orchidee gezeigt, sowie ein Film und schließlich Text. Die Ausstellung selber ist eine Inszenierung, in der alle diese Ebenen zusammengebracht werden, in der Estelle Blaschkes Recherche-Ergebnisse neben meinen Fotos gezeigt werden. Ich habe in den Gewächshäusern fotografiert, habe die Orchideen und die Überwachungstechnologie großformatig eingefangen und als Triptychon gezeigt, sodass sie Teil einer Rauminstallation werden. Bezeichnenderweise hatte die Ausstellung ihren Beginn in einem Gespräch, das Estelle und ich im Centre Pompidou gegeben haben, in dem es um operative Fotografie ging. Wir wurden dann eingeladen, das Thema im Kunstmuseum Stuttgart zu vertiefen, wo wir ein modulares System entwickelten, verschiedene Bildmotive zueinander in Bezug zu setzen. Diese Ausstellung wiederum führte zur Einladung ins Folkwang Museum in Essen, wo wir diese modulare Praxis dann ausgebaut haben.
Ihre Fotografie ist sozusagen ein Puzzleteil oder Modul in einem größeren Ausstellungszusammenhang, in dem es nur noch peripher darum geht, dass man Ihre Fotografien auch käuflich erwerben kann.
Das ist richtig. Natürlich kann man ein solches Triptychon oder eine gerahmte Fotografie trotzdem kaufen. Und natürlich können auch Magazine nach wie vor meine Bilder kaufen und abdrucken, um Artikel zu illustrieren. Das passiert aber nicht mehr so oft wie früher, weil es kaum noch Magazine gibt. Auch deshalb tauchen meine Bilder immer häufiger in einem essayistischen Zusammenhang auf. Sie werden von Kuratoren und Kuratorinnen zusammengestellt, damit sie einen neuen Zusammenhang ergeben – in Büchern oder Ausstellungen. Auffällig ist hier vor allem, dass meine Bilder eben nicht mehr repräsentativ als eigenständige Kunstwerke an der weißen Wand gezeigt werden, sondern es handelt sich zunehmend um Sequenzen von Bildern, um Agglomerationen.
Das Bild wird zu einem Beweis- oder Kontextbild?
Ja, aber trotzdem bleibt das Bild immer noch es selbst, auch wenn es performativer oder inszenierter ausgestellt wird als früher. In Stuttgart gab es zum Beispiel Vitrinen, die von einer vorangegangenen Ausstellung übrig geblieben waren. Diese Vitrinen, die normalerweise horizontal aufgebaut werden, damit Objekte wie Bücher in ihnen ausgestellt werden können, habe ich vertikal aufgestellt und meine Fotos reingehängt. Indem ich jeweils drei Druckstreifen zusammenstellte und sie in Vitrinen präsentierte, wollte ich die Fotografien als dreidimensionale Objekte definieren, um an deren Materialität zu erinnern.
Die Präsentation hatte auch etwas Sakrales.
Mir ging es um die Spannung, die zwischen der Materialisierung und der Entmaterialisierung der Bilder entstehen kann. Und gleichzeitig entsteht auch ein Bezug zu der Institution, in der die Bilder ausgestellt werden, weil wir in deren Depot gehen, die Institutionen öffnen und Gegenstände wiederverwenden. So wird die Ausstellung als Labor begriffen, als eine Situation, die nicht von vornherein gesetzt ist, sondern die ortsspezifisch und in Zusammenarbeit entsteht.
Mit welchem Erkenntnisgewinn?
Ein Erkenntnisgewinn kommt immer dann, wenn Bilder eine Art Medientransfer durchgehen. Meine Motive lassen sich fast immer sehr schnell mit grundlegenden existenziellen Themen verknüpfen, die uns alle angehen, gerade auch, weil die Motive durch meine Bilder oft erst sichtbar werden, gewissermaßen aus der Unsichtbarkeit in die Sichtbarkeit geholt werden. Das liegt daran, dass ich in den vergangenen Jahren systematisch Motive fotografiert habe, an denen sich der Zustand der Welt ablesen lässt – von Bauwerken, die den Lauf von Flüssen verändern, über Gewächshäuser, in denen Monokulturen gezüchtet werden, bis hin zum Arbeitszimmer des Präsidenten der italienischen Republik. Indem die Bilder co-kuratiert und mit Elementen aus dem Ausstellungsort verknüpft werden, kommt zum Bildkontext auch ein persönlicher und ortsspezifischer Moment hinzu. Ein Andocken an einen Raum und an ein Publikum.
Wie kann man sich ein solches ortsspezifisches „Andocken“ zum Beispiel im Centre Pompidou vorstellen?
Als die Ausstellung schließlich nach Paris kam, wollten wir uns unbedingt auch mit der Stadt auseinandersetzen. Fußläufig zum Centre Pompidou lag damals die riesige Baustelle von Notre-Dame. Die Architekten, die mit dem Wiederaufbau beauftragt waren, hatten das Problem, dass sie keine verlässlichen 3D-Renderings oder Baupläne vorliegen hatten. In meiner Recherche las ich in einem Artikel, dass in dem Videospiel Assassin’s Creed eine Episode in Notre-Dame spielt. Der Entwickler, Ubisoft, hatte Notre-Dame mit Hilfe von verschiedenen Daten gerendert und diese für den Wiederaufbau zur Verfügung gestellt. Diese Daten waren schlussendlich für die Architekten nicht brauchbar, brachte meine Recherche jedoch zu der Forschungsgruppe von Livio De Luca, die ein Programm entwickelt hat, mit dem man praktisch jedes Stück, das im Brand auf dem Boden gefallen ist, in einem Depot fotogrammetrisch aufnehmen, auffassen und dreidimensional identifizieren und zuordnen kann. Letztlich waren es jedoch die Daten eines verstorbenen Universitätsprofessors, der Notre-Dame gemeinsam mit seinen Studierenden im Rahmen eines Studienprojekts fotogrammetrisch erfasst hatte, die entscheidend waren. Das Team um de Luca entdeckte die Daten auf Festplatten in seinem Nachlass – dank dieser präzisen Vermessung konnte jedes einzelne Trümmerteil eindeutig zugeordnet werden. In diesen verschiedenen Versuchen im Wiederaufbau von Notre-Dame hat die Fotografie stets eine zentrale Rolle gespielt. Die Fotografie wurde so zu einer Zeitmaschine. Und indem Estelle und ich diese Methode der Fotografie, die der Rekonstruktion zugrunde lagen, in die Ausstellung in Paris einbezogen haben, hatten wir dann mit einem Mal einen sehr starken lokalen Bezug. Das verstehe ich unter dem Begriff „Andocken“, sobald es sich um das Spannungsfeld zwischen Fotografie und konkretem Ausstellungsraum spreche.
Die Fotogrammetrie ist im Begriff, unser Verständnis von Fotografie fundamental zu verändern, weil im zweidimensionalen Bild die Daten für dessen dreidimensionale Wiedergabe schlummern.
Streng genommen ist die Fotogrammetrie nichts Neues in der Fotografie. Man hat bereits im 19. Jahrhundert fotogrammetrisch fotografiert, indem man Architekturen oder Landschaften aus vielen verschiedenen Blickwinkeln fotografierte, um anschließend deren dreidimensionale Darstellung zu ermöglichen. Die Fotogrammetrie ist quasi zusammen mit der Fotografie entstanden. Heute ist sie vor allem die Basis von Videospielen wie Grand Theft Auto, in denen wir uns als Spieler frei in dreidimensionalen Welten bewegen und wir permanent im Raum die Perspektive wechseln können. Unser Bildschirm besitzt eine flache Oberfläche, aber wir bewegen uns in einem dreidimensionalen Raum.
Inwiefern entspricht die Fotogrammetrie also dem natürlichen menschlichen Sehen?
Als Menschen haben wir zwei Augen. Indem unser Gehirn zwei ähnliche, aber unterschiedliche Bilder, deren Quellen nur wenige Zentimeter voneinander auseinander liegen, verknüpft, kann es eine dreidimensionale Wahrnehmung des Raums, in dem wir uns befinden, errechnen. Und so verhält es sich auch mit der Fotogrammetrie. Natürlich wird die Fotogrammetrie vor allem auch zu militärischen Zwecken genutzt, da man mit ihrer Hilfe z.B. die Schussbahnen von Waffen kalkulieren und optimieren kann, indem die fliegende Bombe ihre Umgebung in Echtzeit fotogrammetrisch erfasst und auswertet.
Gehen wir zurück zu der Rolle der Fotografie in Ihrer Arbeit.
Die Fotografie ist in meinen Ausstellungen immer die Basis sowie der Ausgangspunkt, eine Art Köder, um dann den Diskurs zu öffnen und die Fotografie in verschiedene Strategien des Ausstellens einzubauen. Ich arbeite aber gleichzeitig auch sehr klassisch, denn ich fotografiere vor allem im Mittelformat, eine noch immer aufwendige Praxis. Ich verstehe mich primär als Fotograf, auch wenn die Situation in jeder Hinsicht viel komplexer und unübersichtlicher geworden ist als vor, sagen wir 15 oder 20 Jahren.
Sie reden und argumentieren wie ein Forensiker.
Ja, das mag stimmen, aber ich hoffe doch unbedingt, dass ich als poetischer Forensiker der Differenzierung wahrgenommen werde. Ich bin interessiert an den poetischen Indizien über das Medium, das ich benutze. Ich stelle mir immer mehr die Frage, wie Bilder in unserer Gesellschaft überhaupt verwendet werden. 2011 ging es in meinem ersten Film Alpi darum, wie wir eine Landschaft wie die Alpen, die über die Jahrhunderte in der Kunst oder in der Tourismusindustrie und in der Werbung abgebildet worden ist, überhaupt noch wahrnehmen können. Indem der Film nicht die Landschaft selbst zeigt, sondern wie sie dargestellt wird, nimmt der Film eine ähnliche Rolle ein wie ein Buch oder eine Ausstellung. Ein solcher Film oder ein Buch ist dann eher eine Sammlung von Indizien als ein Urteil.
Eines Ihrer berühmtesten und bekanntesten Bilder ist Ihre Serie über die Bauarbeiten zur Drei-Schluchten-Talsperre in Yichang, China. Um diese Bilder zu schießen, haben Sie eine anstrengende, komplexe Reise nach China auf sich genommen. Sie haben sich von einer Mailänder Baufirma als Fotograf akkreditieren lassen, um Zugang zu der Baustelle zu bekommen. Dabei sind monumentale Bilder entstanden, es handelt sich fast um Überwältigungsfotografie, da Ihr Motiv so enorm ist. Inwiefern ist das noch oder bereits eine poetisch-forensische Arbeit?
Auch in dieser Arbeit ging es mir nicht nur um das klassische, große Monumentalbild. Bereits damals ging es mir auch viel um die Menschen, die nicht im Bild zu sehen sind, und um die gigantische, freilich unsichtbare Infrastruktur, die für den Bau der Talsperre nötig war. Für den Staudamm musste eine Millionenstadt umgesiedelt werden, und die Arbeiter, die für den Bau benötigt wurden, mussten von weit entfernten Regionen in China anreisen. Und natürlich mussten sie unter Arbeitsbedingungen arbeiten, die sie nicht frei verhandeln konnten. Mich interessierten über das beeindruckende Bildmotiv hinaus diese Infrastrukturen und die unsichtbaren sozialen und psychologischen Folgen der Umsiedlung von großen Teilen der lokalen Bevölkerung. Was entsteht um die Talsperre herum? Welche neuen ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen entstehen, wenn ein solches riesiges Projekt durchgezogen wird?
Und genau dies praktizieren Sie ja selbst, wenn Sie einerseits die Welt bereisen, um in tausendfachen elliptischen Wiederholungsschleifen stets einen anderen Aspekt dieses menschlichen Eroberungswillens gegenüber der Natur in Ihren Fotos dokumentieren. Sie erwähnten Ihren Film Alpi, aber auch Ihre Bücher, Ihr Archiv und die Ausstellungen, die Sie längst nicht mehr wie ein bildender Künstler selbst in den Räumen einer Ihrer Galerien hängen, sondern die immer in Zusammenarbeit mit Co-Kuratoren und -Kuratorinnen entstehen, die zudem oft aus ganz anderen Disziplinen kommen.
Ja, vielleicht brauchte ich auch eine gewisse Zeit und eine gewisse kritische Masse an Bildern, eine gewisse Unübersichtlichkeit, um mich so zu entwickeln. Aber zugleich ging es mir von Anfang an auch immer darum, in meinen Bildern zu zeigen, dass Orte wie die Drei-Schluchten-Talsperre nicht einfach exotische Orte am anderen Ende der Welt sind, sondern dass sie im Gegenteil stark mit uns verbunden und global vernetzt sind. In Yichang waren nicht bloß italienische Firmen aus Mailand mit Finanz- und Ingenieursdienstleistungen mit an dem Bau beteiligt. Siemens Deutschland lieferte riesige Pumpen für den Staudamm. Schlussendlich waren viele internationale Konsortien am Bau beteiligt. Diese hochkomplexen, technischen Bauwerke, die auf den ersten Blick exotisch und isoliert in der Landschaft scheinen, zeigen auf den zweiten Blick, dass sie eigentlich genau die Brücken einer globalen Vernetzung sind, die unser 21. Jahrhundert so sehr prägt. Diese Art zu arbeiten begann vor etwa zwölf Jahren, als mich das Haus der Kultur in der Welt in Berlin, damals unter der Leitung von Bernd Scherer, angefragt hatte, mit meinen Bildern zu einer Ausstellung über das Anthropozän beizutragen. Das war eigentlich der Beginn, dass mir dieser Prozess der Lesung und der Zusammenstellung der Bilder zunehmend wichtiger wurde, als in einer Ausstellung bloß Fotografien zu zeigen.
Die Anthropozän-Ausstellung im HKW markierte also einen Beginn?
Ja, in diesem Moment habe ich festgestellt, dass in meinen Bildern Spannungspotenziale liegen, die herausgearbeitet werden wollen. Ich war selbst ganz überrascht, dass es ausgerechnet inszenatorische Mittel des Theaters waren, die diese Spannungspotenziale der Bilder hervorzukehren imstande waren.
Eine wichtige Ausstellung, die auf Anthropozän aufgebaut hat, war 2016 dann The Appearance of That What Cannot Be Seen im ZKM in Karlsruhe, die von Peter Weibel kuratiert wurde …
Ja! Wir haben in der Ausstellung alle ein bis zwei Monate das Setting gewechselt, wie im Theater, wo es ja auch verschiedene Akte und Bühnenbilder gibt. Folgerichtig hatten wir auch Sound integriert und verschiedene Akteurinnen und Akteure eingeladen, die die Bilder interpretiert hatten. Die Idee im ZKM war, dass die Fotos zwar gerahmt waren wie in einer Galerieausstellung, aber sie hingen an mobilen Wänden, wie sie in der Oper oder im Theater benutzt werden – bewegliche Hintergrundwände. So entstand eine Spannung zwischen Fiktion und Dokumentation. Ich habe also mit den Zeit- und Raumskalen des Theaters gespielt. Das sechsköpfige Team bestand aus Gestalterinnen, Szenografen, und Soundesignerinnen – Jan Kieswetter, Giuseppe Ielasi, Alina Schmuch, Heike Schupelius, Martha Schwindling und Linda Van Deursen.
Ist dieser Wunsch, das Anthropozän szenisch und variabel zu dokumentieren vielleicht auch ein Versuch, darauf hinzuweisen, dass diese Bilder trotz des ganzen Dokumentarischen und dem kalten Blick auf die Welt dennoch den Blickwinkel des Auteurs Armin Linke zeigen?
Sicherlich. Außerdem gibt es eine gewisse Ironie – als wäre die abgebildete Utopie der Zukunft bereits in dem Moment überholt, wo sie durch das Foto festgehalten wird. Das wäre dann der Sisyphos-Effekt: Der Mensch versucht unentwegt und immer wieder von Neuem irgendetwas Neues aufzubauen, gleichzeitig zerstört er das Alte, das zuvor neu gewesen ist, und der ganzen Arbeit haftet somit eine gewisse Absurdität an. Trotz ihrer oft beeindruckenden Motive versuche ich, dass meine Bilder nicht zelebrierend sind, sondern auch das Groteske der menschlichen Existenz einfangen.
Du hast so viele Bilder in deinem Leben gemacht, mehrere Millionen dass du Kuratoren und Kuratorinnen benötigst, die durch deine Archive gehen, um mit Verschlagwortung und neuen Ideen, wie man Cluster bilden kann, die versuchen, sich hindurchzunavigieren durch dein Archiv der Bilder. Inwiefern hast du vielleicht längst den Überblick über dein eigenes Werk verloren, wenn du neben dem unentwegten Produzieren neuer Ausstellungen zugleich immer weiter gehst mit dem Fotografieren, weil immer das nächste Projekt ansteht?
Auf eine Weise verliere ich schon den Überblick. Andererseits entstehen manchmal wirklich sehr interessante Zurückverknüpfungen. Entscheidend ist, dass ich eigentlich von Anfang an versucht habe, alle meine Bilder sehr gut zu archivieren, nur dass diese Ordnung bei mir keine bürokratische Ordnung ist, sondern eher so angelegt ist wie ein komplexer Schneidetisch.
Wie hat man sich einen solchen Editing-Tisch vorzustellen?
Früher hingen beim Filmschnitt die Rollen mit dem zu schneidenden Film geordnet an einer Leine, so dass man sehr schnell auf das Material zugreifen konnte, um mal einen Test am Schneidetisch zu machen, um zu sehen, ob ein Gegenschnitt funktioniert oder nicht. Damals war das Schneiden ein bisschen wie in der Improvisationsmusik, wo die Musiker und Musikerinnen ihr Repertoire stets griffbereit haben, also intuitiv abrufen können, und darüber hinaus eine große Sicherheit in ihrem Handwerk haben, so dass sie imstande sind, neue Kombinationen auszutesten. In diesem Sinne hatte ich von Anfang an keine Angst, dass ich zu viel produzieren könnte, weil ich von Anfang an parallel dazu nach Methoden gesucht habe, um die Übersicht über meine Produktion zu behalten. Es ist ein bisschen komplizierter geworden, als auch noch die Filmproduktion dazu kam, also die Ton- und die Zeitebene hinzukamen zu dem Archiv der Bilder. Zugleich wird es durch die verschiedenen Medien aber auch interessanter.
Es gibt zunehmend maschinelle Fotoaufnahmen, zum Beispiel aus dem Weltall, die Frequenzen aufnehmen, welche nicht vom menschlichen Auge perzipiert werden können, sowie eben auch aus der Tiefsee, die nicht mehr mit einer Linse, sondern vermittels Schallwellen gemacht werden, die sich im Wasser fortbewegen. Um sie zu entschlüsseln und sichtbar zu machen, braucht man eine Computersoftware, die diese Wellen kalkuliert und entziffern kann. Bilder sind, und das ist die Kernaussage, heute Datensätze und keine Negative mehr. Die Astrophysiker und Astrophysikerinnen von heute arbeiten gar nicht mehr mit Bildern im klassischen Sinne, sondern nur noch mit Schwingungen, genau wie in der Musik.
Das gleiche gilt auch für die Sprache! Mit Estelle Blaschke habe ich im Zuge der Gespräche zu Image Capital begonnen zu erforschen, dass das Geldkapital der Bilder gar nicht mehr im Bild selbst steckt, sondern in dem Text, der mit dem Bild verbunden ist. Abermals ein unsichtbares Bild.
Ganz genau. Ich spreche davon, wie künstliche Intelligenz aus der Art und Weise lernt, wie wir Menschen Bilder mit Sprache beschreiben z.B. auf Instagram oder auf WhatsApp. Und dieser Medientransfer von Sprache zu Bild ist für die großen Tech-Firmen, deren Geschäft der Umgang mit Big Data ist, sehr interessant, weil sie auf diese Weise Algorithmen finden, wie Bilder in Sprache übersetzt werden können und umgekehrt. Diese Bilder werden systematisch in AI-Systeme gespeist. Das Kapital ist zum Schluss aber nicht mehr das Bild, sondern es ist der Text, es sind die Metadaten. Die Metadaten, die mit jedem Bild produziert werden, sind das wirklich Interessante für diese Firmen und für diese weitere Entwicklungen. Es ist doch interessant festzustellen, dass ein Bild in der Fotografie von Anfang an auch Schrift ist oder Informationsträger für Textinformationen und dass Bilder auch von Anfang an, wirklich seit dem Beginn der Fotografie, in diesem Spannungsfeld leben.
Da ich mich im Feld der Kunst bewege, kann ich entscheiden, wie meine Bilder vertrieben werden – darin liegt ein fundamentaler Teil des künstlerischen Prozesses. Dass ich mir bewusst bin, nicht nur ein Bild zu produzieren, sondern auch entscheide, wie es vertrieben wird.
Das ist genau das Problem. Es ist heute wirklich kompliziert geworden, überhaupt Fotografie als Medium zu unterrichten.
In den letzten Jahrzehnten hat sich unser Verständnis von Fotografie fundamental geändert. Das liegt vor allem daran, weil die Fotokamera zu einem Teil unseres Körpers geworden ist, weil sie in unseren Handys stets griffbereit zur Hand ist. Die Handykameras sind zu einer Exoprothesen unseres Körpers geworden. Es ist möglich, die produzierten Bilder sofort weiterzuleiten, zu veröffentlichen, sie maschinell zu generieren. Als ich angefangen habe, konnte ich mich als Fotograf über eine gewisse Investition definieren. Ich kaufte mir eine Plattenkamera oder eine Rolleiflex oder eine Hasselblad, also eine groß- oder kleinformatige Kamera mit einer sehr guten Linse. Ich investierte sozusagen in ein Werkzeug, dann lernte ich dieses Werkzeug, bis ich es so gut beherrschte, dass ich die Technik vergessen konnte, um mich komplett auf meine Ideen zu konzentrieren und meine eigene Bildsprache zu entwickeln.
Das ist heute nicht mehr in diesem Maße notwendig oder sogar interessant oder möglich. Es geht heute viel eher um die Frage, warum ich ein Bild produziere. Wie vertreibe ich dieses Bild, wie prozessiere ich es? Wie kann ich den Algorithmus so programmieren, damit er aus meinem Bild, das kreiert, was mich interessiert? Benutze ich hierfür Algorithmen, die frei zu programmieren sind? Oder benutze ich Algorithmen, deren Zusammensetzung verborgen liegt in der Blackbox eines Tech-Konzerns? Was hat diese technische Seite für ethische Implikationen? Und vielleicht geht es zum Schluss gar nicht mehr darum, dass ich selbst Bilder produzieren muss, sondern vielmehr darum, sie zu finden?
Armin Linke (geb. 1966 in Mailand) arbeitet als Künstler im Feld der Fotografie (und des Films), indem er Prozesse anschiebt, die das Medium, seine Technologien, Erzählstrukturen und Komplizenschaften innerhalb breiterer soziopolitischer Strukturen analysieren. In seiner Arbeit stellt Armin Linke grundsätzliche Fragen, die ganz konkret auch die Ränder der Fotografie berühren: die Autorschaft von Bildern, die Konzeption von Archiven, technologische Entwicklungen in der Fotografie wie z.B. die der Photogrammetrie, deren fundamentale Auswirkungen auf unser Verständnis vom Fotografieren derzeit nur als mögliche Zukunftsvisionen erzählbar sind.
Vor allem gilt Armin Linke als fotografischer Chronist des Anthropozäns. Auf zahllosen Recherchereisen fotografierte er immer wieder Beweisbilder von abertausenden Schauplätzen und Orten, an denen der Mensch aktiv in den Planeten, die Geografie, das Gefüge der Gesellschaft eingreift.
Max Dax (geb. 1969 in Kiel) ist ein Publizist, Kurator und Fotograf, der sich nicht erst seit seiner Tätigkeit als Chefredakteur der Magazine Alert, Spex und Electronic Beats im pop-kulturellen Grenzbereich zwischen bildender Kunst, Literatur und Musik bewegt.
Als Kurator konzipierte und realisierte er 2019 und 2022 die gefeierten Museumsausstellungen HYPER! – A Journey into Art and Music in den Deichtorhallen Hamburg sowie Black Album / White Cube in der Kunsthal Rotterdam, die die Wechselbeziehung zwischen Kunst und Musik umkreisten.
Seit 2016 führt Max Dax in der Santa Lucia Galerie der Gespräche in Berlin profilierte Artist Talks. Sein 2021 erschienener Debütroman DISSONANZ – ein austauschbares Jahr, wurde von Alexander Kluge im Spiegel 2022 als eines von drei persönlichen „literarischen Höhepunkten der letzten Jahre“ erwähnt.
Mit freundlicher Unterstützung:
Kulturamt der Landeshauptstadt Düsseldorf